Bergluft    Kinder vom Berge sind so kräftig wie junge Eichen, bis sie etwas älter als zehn sind, und dann hinterläßt allmählich die Überarbeitung am wachsenden Körper ihre Spuren. Ein schlaksiger Junge von dreizehn, der sich an Rückgrat und Gliedern gerade zu der Lange auswachsen will, die für die Bergluft typisch ist, kriegt oft einen Knick, den er später nie wieder ausgleicht. In den entfernteren Holzindustrievierteln habe ich Jungen von zehn und zwölf gesehen, die den ganzen Tag Wagen volluden. Da standen auch dünne Bergmädchen von zwölf und vierzehn den ganzen Tag im eisigen Sprühregen der engen Bergwasserschlucht, um Baumrinde auf die Wagen zu häufen.

Hier, wo Isolierung aus den Menschen kompromißlose Individualisten macht, verbietet die öffentliche Meinung einem Mann nur sehr zögernd, in dem Alter zu heiraten, in dem er will, und verbietet ihm ebenso zögernd, seinen Mais in Whisky zu verwandeln. Im Alter, wo Jungen und Mädchen zum ersten Mal geschlechtliche Regungen verspüren, heiraten sie, und die Eltern lassen sie, wenn auch mit Bedauern, gewähren.

Eine unverheiratete Mutter ist äußerst selten. Ein Junge von sechzehn kommt all seinen Pflichten als Vater nach. Eine vierzehnjährige Mutter tritt in altersloser Weisheit ohne zu straucheln eine Zukunft an, die aus einem Dutzend Kindern bestehen wird.

Doch da ist Lory. Aber noch eine Abschweifung -: Bei jedem Bericht über die Berge muß man sich erinnern, daß es drei verschiedene Typen gibt: die Menschen aus kleinen Dörfern, die fast alle weit von Eisenbahnlinien liegen; die wandernden Holzarbeiter, Holzfäller und Sägewerksarbeiter, die den Zufallswegen der transportablen Sagemühle folgen, die ein abgelegenes Gebirgstal nach dem anderen entwaldet; und die fest ansässigen Bauern, die ihre dahinsiechenden Äcker seit Generationen weitervererben. Und doch ist im Grund die Mutter aus den Bergen immer dieselbe.

Lory wohnt in einer Holzhütte mit einem Zimmer, und zieht etwa alle drei Monate um. Die Wände sind aus Planken, zwischen den Planken bis zu zwei Finger breite Spalte. Es gibt zwei kleine Fenster mit Rolläden aus Holz und eine Türe. Alle drei müssen geschlossen sein, wenn es sehr kalt ist. Für besseren Schutz sind die Wände mit Zeitungen überklebt, die sich immer abschälen und von den Waldratten angenagt werden. Der Boden aus Planken hält den roten Ton nicht vom Einsickern ab. Die Hütte ist etwa fünfzehn Fuß lang und breit. Sie enthält zwei Ofen, zwei Betten, zwei Kästen, einen Tisch und zwei oder drei Stühle. Darin leben sechs Seelen: zwei Brüder, ihre Frauen und je ein Baby.

Lory hat auch indianisches Blut, so schließt man aus ihrem glatten Haar, das ihr über die Augen fällt, und aus ihren langsamen squaw-artigen Bewegungen. Ihr Gesicht ist stumpf, wenn nicht ein Lächeln reinen Vergnügens darin aufblitzt. Obwohl sie dunkel ist, ist ihre Brust ohne das dunkle purpurrote Kleid von statuarischem Weiß. Sie sieht auf ihr erstes Baby mit einer Madonnenliebe herunter, und in ihren Worten liegt die Ehrfurcht einer Madonna vor einem heiligen Ding: »Ich werd ihm nie die Peitsche geben. Er wird sie nie nötig haben, denn er wird nie böse .werden, wenn ich's ihm nicht beibringe!«

Die Umgebung ist ein Märchen. Bergbewohner kommen einem Leben, das auf Schönheit beruht, sehr nahe. Die Frauen können zu sorglos und zu träge werden, um selbst das Kleingesträuch wegzukratzen und ein paar süße Kartoffeln und Kohl zu pflanzen. Ganze Stunden lang können sie müßig dasitzen und an ihren Schnupftabakstäbchen kauen, wie Mrs. Cole es tut, während Kinder und Hunde und Hühner um sie herum schwärmen: aber selbst Mrs. Cole kann der Lockruf der Schönheit wachrütteln.

»Mein Mann, er fällt Bäume zwei Meilen von hier auf der ersten Lichtung, und er ist knallverrückt nach gelbem Frauenschuh dort oben. Er hat gesagt, ich soll die beiden Kleinsten nehmen, die noch nie sowas gesehen haben, und raufgehn und ihn anschauen, bevor er weg ist. So sind wir gestern gegangen. Sicher, es war ne tüchtige Kletterpartie über die alten Baumstämme, aber Gott, dieser Frauenschuh ist's wert gewesen.«  - William Carlos Williams, Der große amerikanische Roman. In (wcw)

Berg Luft

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