Bergbach   Man wird mit Macht fortgerissen. Bald stoßen die Füße gegen Felsen oder treten auf spitzes Geröll. Wenn man endlich festen Stand gewonnen hat, kann man den sich ständig und unabsehbar wandelnden Geschmack des Wassers kosten auf den Poren der Haut. - Im Gegensatz zu dem etwas allzu nahrungsbezogenen Geschmackssinn, den man weder dosieren noch zurückhalten kann, der sich nicht umkehren läßt und der in seiner Gefräßigkeit so sehr von dem Inhalt einer Börse abhängt, ist die Haut ein wunderbares, weit ausgespanntes, dünnes und zartes Organ; und sozusagen das einzige, das in den Genuß seines Zwillingsorgans gelangen kann: in den Genuß einer anderen Haut, mit einer gleichen oder verschiedenen Körnung, einem Gefühl für die Berührung, einer spürbaren Glätte... Nur der Blick kennt eine so unmittelbare Entgegnung... aber sehen ist etwas völlig anderes als gesehen werden; wohingegen zu berühren dieselbe Gebärde ist wie berührt zu werden ... Und dennoch haben die Dichter und die Großen im Reich der Phantasie, die sich so ausführlich auslassen über die Zwiesprache vermittels der Pupillen, der Wörter und der Stimme, vermittels jener ekstatischen Momente, die so unziemlich von der Physiologie bestimmt werden - trotzdem haben die Dichter die Unmittelbarkeit und den Zauber und die Lust der Haut kaum besungen.

Diese Lust offenbart sich als erstes, wenn man in das Bett des Bergbachs hinabtaucht. Sobald man seinen Stand wiedergefunden hat, wird man umrauscht, umströmt, geschürft und berannt an allen Nähten. Der Zweikampf mit dem herabrauschenden Wasser ist total, es gibt fast keine Hilfe: die Schwerkraft, die sich so brennend bemerkbar macht beim wirklichen Sturz, die im Unterleib soviel Schwindel auslöst bei der Vorstellung des Sturzes, - die Schwerkraft existiert fast nicht mehr, und der altgewohnte feste Boden, jener Vater des Stehvermögens, ist hier nur durch massige, runde und moosbewachsene Kiesel vertreten, die offenkundig selber anfangen können zu tanzen, ins Wasser zu rollen, davonzuschwimmen; - und überdies sind sie überzogen mit einer grünen, samtigen, nachgiebigen und glitschigen Haut, auf der man noch weniger Halt findet als auf dem Wasser...    - Victor Segalen, Aufbruch in dasLand der Wirklichkeit. Frankfurt und Paris 1984 (zuerst 1924)

Bach

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