einamputation  S.'s Onkel gehörte zu einer serbischen Partisanengruppe, die gegen die Nazi-Besatzer kämpfte. Eines Morgens wachten er und seine Kameraden auf und fanden sich von deutschen Truppen umzingelt. Sie hatten sich in einem Bauernhaus irgendwo auf dem Lande verschanzt, es lag fast ein halber Meter Schnee, an Flucht war nicht zu denken. Da ihnen nichts Besseres einfiel, beschlossen die Männer zu losen. Sie wollten einer nach dem anderen aus dem Bauernhaus stürmen, durch den Schnee rennen und irgendwie versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Die Auslosung ergab, daß S.s Onkel als dritter gehen sollte.

Er beobachtete durchs Fenster, wie der erste auf den schneebedeckten Acker hinauslief, Aus dem Wald gegenüber eröffneten Maschinengewehre das Feuer und mähten den Mann nieder. Einen Augenblick später lief der zweite los, und wieder geschah das gleiche. Die Maschinengewehre ratterten, und er fiel tot in den Schnee.

Dann war der Onkel meines Freundes an der Reihe. Ich weiß nicht, ob er an der Tür zögerte, ich weiß nicht, was für Gedanken ihm in diesem Augenblick durch den Kopf hämmerten. Mir wurde nur erzählt, daß er loslief und durch den Schnee rannte, so schnell er konnte. Er schien eine Ewigkeit zu laufen. Dann spürte er plötzlich einen Schmerz im Bein. Eine Sekunde danach fuhr eine überwältigende Wärme durch seinen Körper, und noch eine Sekunde später verlor er das Bewußtsein.

Als er aufwachte, lag er auf dem Rücken in einem Bauernkarren. Er hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, keine Ahnung, wie er gerettet worden war. Er hatte nur die Augen aufgeschlagen — und da lag er auf einem Karren, den irgendein Pferd oder Maultier eine Landstraße entlangzog, und starrte einem Bauern auf den Hinterkopf, Als er diesen Hinterkopf einige Sekunden lang betrachtet hatte, brachen plötzlich laute Detonationen aus den Wäldern. Zu schwach, sich zu bewegen, sah er nur immer weiter diesen Hinterkopf an, und auf einmal war der weg. Er flog dem Bauern einfach vom Rumpf, und wo eben noch ein vollständiger Mann gesessen hatte, saß nun ein Mann ohne Kopf

 Mehr Lärm, mehr Durcheinander. Ob das Pferd den Karren weiterzog oder nicht, kann ich nicht sagen, aber binnen weniger Minuten, vielleicht auch nur Sekunden, kam auf der Straße ein großes Kontingent russischer Soldaten anmarschiert. Jeeps, Panzer, Hunderte von Soldaten. Nachdem der befehlshabende Offizier einen kurzen Blick auf das Bein von S.s Onkel geworfen hatte, ließ er ihn sofort in ein Lazarett bringen, das irgendwo in der Nähe errichtet worden war. Es war nur eine baufällige Holzhütte — ein Hühnerstall vielleicht oder sonst ein Nebengebäude eines Bauernhofs. Dort erklärte der russische Arzt das Bein für verloren. Die Verletzung sei zu schwer, sagte er, er werde es abnehmen müssen.

Der Onkel meines Freundes kreischte auf. «Nicht das Bein abnehmen!» schrie er. «Bitte, ich flehe Sie an, nicht das Bein abnehmen!» Aber niemand hörte auf ihn. Die Sanitäter schnallten ihn auf den Operationstisch, und der Arzt griff nach der Säge. Er hatte sie schon angesetzt, als wieder eine Detonation ertönte. Das Dach der Hütte brach ein, die Wände klappten zusammen, das Lazarett war zerstört. Und wieder einmal verlor S.s Onkel das Bewußtsein.

Als er diesmal aufwachte, fand er sich in einem Bett wieder. Die Laken waren weich und sauber, in dem Zimmer roch es angenehm, und sein Bein war noch da, wo es hingehörte. Gleich darauf sah er einer schönen jungen Frau ins Gesicht. Sie hielt ihm lächelnd einen Löffel Brühe an den Mund. Ohne zu wissen, wie, war er aufs neue gerettet und zu einem anderen Bauernhof gebracht worden. Noch etliche Minuten, nachdem er zu sich gekommen war, vermochte er nicht zu sagen, ob er tot oder lebendig sei. Es schien ihm nicht ausgeschlossen, daß er im Himmel aufgewacht war.

Er blieb bis zu seiner Genesung in dem Haus und verliebte sich in die junge Frau, doch ist aus der Geschichte letztlich nichts geworden. Ich wünschte, ich könnte sagen warum, aber S. hat mir die Einzelheiten nicht mitgeteilt. Ich weiß lediglich, daß sein Onkel das Bein behalten hat — und daß er nach dem Krieg nach Amerika gegangen ist, um ein neues Leben anzufangen. - Paul Auster, Das rote Notizbuch. Reinbek bei Hamburg 1996 (zuerst 1995)

Beinamputation (2)

- Thomas Rowlandson

Bein Amputation
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