Baum, singender   »Kind, ich habe mich verirrt, als ich euer Haus sah, dachte ich: ich will hineingehen und sehen, wer dort ist, wer nicht. Warum bist du hier allein, fürchtest du dich nicht?«

»Doch, wie soll ich mich denn nicht fürchten? Mein Bruder ging auf die Jagd in die Berge, bis der Abend anbricht, bleibe ich im Haus allein, niemanden sehe ich, wir wohnen weit weg von Dörfern und von Städten, niemand öffnet unsere Tür.«

»Eh, eh, die Großmutter will für dich sterben, Kind, ich lehre mein Mädchen Vernunft und bringe ihr Verstand bei; du sage deinem Bruder, er solle dir einen Zweig von dem singenden Baum holen, er solle ihn vor der Tür einpflanzen, er wird wachsen, Triebe und Laub geben; dann, sowie der Wind weht, werden seine Zweige, seine Triebe erklingen: >turlu-turlu<, sie werden ertönen, du wirst es hören, wirst dich freuen, deine junge Seele wird nicht dahinschmachten und verkümmern. Du befreist dich von der Einsamkeit. Kind, ich will für dich sterben!«

Als die Alte aufgestanden und fortgegangen war, wurde das Mädchen nachdenklich, ihr Antlitz verfinsterte sich, sie wurde schwermütig. Am Abend, als der Bruder heimkehrte, ging sie ihm nicht entgegen. Der Bursche kam hin, blickte auf die Schwester und sagte staunend: »Ei, liebe Schwester, warum bist du so schwermütig, was ist geschehen?«

»Du gehst aus dem Haus in die Berge, in die Schluchten, siehst vielerlei wilde Tiere, dein Herz ist gut aufgelegt, ich aber sitze allein zu Haus bis zum Ahend, es zerreißt mir das Herz. Geh, bring mir einen Zweig von dem singenden Baum, ich werde ihn vor der Tür einpflanzen, er wächst heran, wird Triebe und Laub geben, weht der Wind, so fangen die Triebe und Blätter an wie die Nachtigall zu singen und zu raunen, mein Herz wird sich auf schließen.«

Am nächsten Tag stand der Bursche auf, machte sich auf den Weg, er ging lange oder kurz, da erblickte er einen Greis, der saß da, wo sich zwei Wege scheiden. »Guten Morgen, Papachen«, sagte der Bursche.

»Guten Tag, Söhnchen, wohin gehst du?«

»icn bemühe mich, einen Zweig des singenden Baumes für meine Schwester zu holen, den werde ich vor der Tür einpflanzen, er wird Zweige geben, wird Triebe und Laub geben, weht der Wind - so fangen die Zweige und das Laub wie eine Nachtigall zu singen an, meine Schwester wird ihre Freude daran haben.« - »Ei, Söhnchen, deine Schwester und du, ihr seid von einer bösen Frau betrogen, einen Zweig des singenden Baumes herzubringen ist nicht so leicht; so viele gingen und kehrten nicht zurück, das ist der Weg >Hin - nie zurück<, höre auf mich - und kehre um.« - »Nein, Papachen, ich bin gekommen und muß gehen, anders ist es nicht möglich.«

»Nun, wenn du gehst, so gehe jenen Weg nicht, sondern gehe diesen Weg. Gehst du ihn, so wirst du einen hohen Berg erblicken, auf diesem Berg steht ein Wald und darin der singende Baum. Sowie du hingelangst, reiße einen Zweig ab, laufe fort, alle Bäume werden die Sprache erlangen, werden dir nachrufen: »Ein Irdischer hat das Feurige fortgetragen!«, du aber wende dich auf keinen Fall um, schaue nicht zurück, tust du es doch -so verwandelst du dich in einen Stein.«

Der Bursche ging und ging, erreichte den Wald der singenden Bäume, riß einen Zweig ab und lief fort. Die Bäume schrien ihm nach: »Ein Irdischer hat das Feurige fortgetragen!« Der Bursche wandte sich nicht um, hielt den Zweig fest, trug ihn zur Schwester, pflanzte ihn vor der Tür ein, der verwandelte sich in einen Baum mit Zweigen, er gab Triebe und Laub, als der Wind wehte, raunten sie, seine Schwester freute sich.  - Armenische Märchen. Hg. Isidor Levin. Köln Düsseldorf 1988 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

Baum Singen

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