auch-Gehirn
Daß, wann der somnambule Zustand vollkommen vorhanden ist,
die äußern Sinne ihre Funktionen gänzlich eingestellt haben, ist unwidersprechlich;
da selbst der Subjektiveste unter ihnen, das körperliche Gefühl, so gänzlich
verschwunden ist, daß man die schmerzlichsten chirurgischen Operationen wahrend
des magnetischen Schlafs vollzogen hat, ohne daß der Patient irgend eine Empfindung
davon verrathen hätte. Das Gehirn scheint dabei im Zustande des allertiefsten
Schlafs, also gänzlicher Unthätigkeit zu seyn. Dieses, nebst gewissen Aeußerungen
und Aussagen der Somnambulen, hat die Hypothese veranlaßt, der somnambule Zustand
bestehe im gänzlichen Depotenziren [Entkräften] des Gehirns und Ansammeln der
Lebenskraft im sympathischen Nerven, dessen größere Geflechte, namentlich der
plexus solaris [das Sonnengeflecht], jetzt zu einem Sensorio umgeschaffen
würden und also, vikarirend [stellvertretend], die Funktionen des Gehirns übernähmen,
welche sie nun ohne Hülfe äußerer Sinneswerkzeuge und dennoch ungleich vollkommener,
als dieses, ausübten. Diese, ich glaube zuerst von Reil aufgestellte
Hypothese ist nicht ohne Scheinbarkeit und steht seitdem in großem Ansehn. Ihre
Hauptstütze bleiben die Aussagen fast aller hellsehenden Somnambulen, daß jetzt
ihr Bewußtseyn seinen Sitz gänzlich auf der Herzgrube habe, woselbst ihr Denken
und Wahrnehmen vor sich gehe, wie sonst im Kopf. Auch lassen die Meisten unter
ihnen die Gegenstände, die sie genau besehn wollen, sich auf die Magengegend
legen. Dennoch halte ich die Sache für unmöglich. Man betrachte nur das Sonnengeflecht,
dieses sogenannte cerebrum abdominale [Bauch-Gehirn]: wie so gar klein
ist seine Masse und wie höchst einfach seine, aus Ringen von Nervensubstanz,
nebst einigen leichten Anschwellungen bestehende Struktur! Wenn ein solches
Organ die Funktionen des Anschauens und Denkens zu vollziehn fähig wäre; so
würde das sonst überall bestätigte Gesetz natura nihil facit frustra
[die Natur tut nichts vergeblich: Aristoteles, De incessa animalium]
umgestoßen seyn. Denn wozu wäre dann noch die meistens 3 und bei Einzelnen über
5 Pfund wiegende, so kostbare, wie wohlverwahrte Masse des Gehirns, mit
der so überaus künstlichen Struktur seiner Theile, deren Komplikation [Verschlingung]
so intrikat [verwickelt] ist, daß es mehrerer ganz verschiedener Zerlegungsweisen
und häufiger Wiederholung derselben bedarf, um nur den Zusammenhang der Konstruktion
dieses Organs einigermaaßen verstehn und sich ein erträglich deutliches Bild
von der wundersamen Gestalt und Verknüpfung seiner vielen Theile machen zu können.
- Schopenhauer, Versuch über Geistersehn und was damit zusammenhängt,
nach (schop)
|
||
|
||