Balkonleben    Meine Mutter - sie kaufte so gern  billiges Brot und hortete es im Gefrierschrank. An jenem Abend hatte sie vergessen, das Brot rechtzeitig herauszuholen, wir saßen hungrig auf dem Balkon im achten Stock, mit der Wurst, den Gurken, den Radieschen - und sahen dem tauenden Brot zu. Plötzlich nahm meine Mutter eine eisigglitzernde Scheibe hoch und hielt sie ausgestreckten Arms der Sonne entgegen. Mein Vater folgte, ihrem Beispiel ohne zu zögern - fasziniert machte ich mit. Es sah grossartig aus, ähnlich einem Druidenritus - wir drei auf dem Balkon im achten Stock des Hochhauses brachten der untergehenden Sonne ein Stück gefrorenes Brot dar, mit einem Kranz von staunenden, hälserenkenden Nachbarn. Balkongeschichten. Ich erinnere mich an die Nacht der Schreie - als die Familie hinauslief um sich am Selbstmörder zu ergötzen, im sechsten Stock gegenüber. Er hatte es sich anscheinend im letzten Moment noch anders überlegt, klammerte sich mit beiden Händen am Geländer fest, bemüht, seinen Körper wieder hinaufzuziehen. Ich begriff.  Nicht er war es, der schrie, die Schreie kamen von Zuschauern, ihm selbst schien die Situation peinlich zu sein, ich durfte nicht weiter zusehen, wurde zurück ins Bett geschickt. Am Morgen entdeckten wir oben ein verbogenes Geländer, unten einen Blutfleck.    - Helmut Krausser, Schweine und Elefanten. Reinbek bei Hamburg 1999
 

Balkon Leben

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