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Edmund
Stoiber
Bahnhof (2) Da heißt es umsteigen.
Der Bahnhof liegt exzentrisch, vielleicht in einer Berliner Vorstadt; Züge kommen
zu ebener Erde und als Hochbahn, Untergrundlinien führen in die Stadt. Das Ganze
ist düster, verworren wie Piranesis »Carceri«. Die Gänge sind labyrinthisch,
von Sperren und Schaltern unterbrochen, stoßweise, wie in Wehen, von beängstigendem
Gedränge erfüllt. Es gibt Irrwege, verlorene oder falsche Fahrkarten, geraubtes
Gepäck, Trennung von den Gefährten, verkehrte Bahnsteige, verpaßte Anschlüsse.
Mein Gott, das Ziel wird nie erreicht werden. -
Ernst Jünger, Notat vom 1. November 1965. Siebzig verweht I. Stuttgart 1980
Bahnhof (3)
Abwesenheit grau grau graues durcheinander seht unsre gesichter vom laster zerfetzt und sommer winter jahrhunderte kommen vorüber |
Bahnhof (4)
Bahnhof (5) Wenn man einen eleganten
Bahnhof wie die Gare de l'Est von seinem großen Vorplatz aus sieht, würde man
ihn nicht für einen Ort der Melancholie, der traurigen
Ereignisse halten. Von hier aus ging's an die Front. Oft kehrten nur Zinksärge
zurück. Hier gab Madame Bessarabo nach Nancy die Leiche ihres Mannes als Stückgut
auf. Und hier hinterließ 1948 ein graugekleideter Mann, den man nie mehr wiedersah,
bei der Gepäckaufbewahrung eine Offizierskiste (schon wieder Krieg!) mit der
Leiche einer enthaupteten Frau, die nicht identifiziert
werden konnte. -
Léo Malet, Wie steht mit Tod? Reinbek bei Hamburg 1985
Bahnhof (6) Dosen mit Spatengold kosten zwei Mark, das kann man gelten lassen. An gelb lackierten Stehtischen unterhalten sich Semipenner ungezwungen mit jedem, der das gut findet, es sei denn mit Schnorrern. Eine Frau.
Ihr Gesicht muß irgendwann hübsch gewesen sein. Gezeichnet vom Suff wirkt es immer noch freundlich, voller Leben, ihre Augen blinzeln frech, und ihr Haar ist von pechschwarzem Glanz. Wenn sie jemanden ansieht, stößt sie ihre Zunge an die Zähne und läßt den Mund einen Spaltbreit offen. Auch von der Bierdose schlürft sie nicht ohne Erotik. Ihre Figur ist schlank geblieben, steckt in Jeans und einer Art abgewetztem Poncho. Dem runzligen Kerl, der permanent einen Arm um sie legen will, greift sie ohne Arroganz an die Eier, «Das isda Kokosnußcharlie!» erklärt sie allen, Kokosnußcharlie grinst selbstbewußt, nickt mir zu, liegt im Kampf um die Gunst der späten Madonna klar in Führung, neidische Blicke von überallher stützen seine Zufriedenheit ab. Ich könnte den Wettkampf noch einmal entfachen, das gibt mir die Frau zu verstehen. Mit einem Zwinkern. Aus der Hüfte. Quasi. Laß gut sein.
Trinker in schmierigen Mänteln, Trinker in kurzärmligen Hemden. Uniformiert
der jugoslawische Nachtportier des Eden-Wolff-Hotels gegenüber, wortführend
in der Diskussion über die Unterschiede zwischen deutschem und jugoslawischem
Fußball, dazu hat fast jeder was zu sagen. Auftritt von links: Vokuhila mit
Schnauzer und Fliegerjacke. Purer Abschaum. Geschäftsführer einer Bar in der
Schiller-Straße. Behauptet er. Prahlt, wieviel Gesocks er heute schon vor die
Tür gesetzt hat. Öffnet stolz die Jacke, zeigt sein Arsenal: ein Baseballschläger,
ein Gummiknüppel mit eingebautem Reizspray, eine Tränengaspistole. Alles legal,
betont er, weil in wenigen Metern Entfernung zwei Bahnbullen rumstehn, er dürfe
damit nur nicht auf Versammlungen. Boah ey - der kennt das Gesetz. Man schweigt
beeindruckt. Sein Kompagnon, ein junger Debiler mit Gesichtsrose, versucht mich
zu provozieren, weil ich das Wort Defensivlethargie gebraucht hab, das hier
nicht hergehört. Klugscheißer müssen gejagt werden, sagt er. Meine Scheiße ist
nicht klüger als deine, sag ich. Dagegen hat er nichts einzuwenden, das sei
korrekt. - Helmut Krausser, Schweine und
Elefanten. Reinbek bei Hamburg 1999
Bahnhof (7)
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