Ausweglosigkeit   

»To paint yourself into a corner«, sagte Z. »Kennen Sie das?« Er wisse gar nicht, wie man das auf deutsch sage. Ihm sei ein Licht aufgegangen, als er diese Redewendung zum ersten Mal gehört habe. «Also, Sie stehen da seit ein paar Stunden in Ihren abgetragensten Klamotten mit der Streichbürste in der Hand und dem Farbtopf neben sich. Und dann stellen Sie fest, daß Sie einen Fehler gemacht haben - leider ist es bereits zu spät. Vor Ihnen liegt eine wunderbar glatte, naß glänzende Fläche. Sie haben sich selbst in die Ecke gemalt, und ohne ihr eigenes Werk zu zerstören, finden Sie nicht mehr hinaus.«

»Selber schuld!« rief der Abiturient. »Weil Sie nicht aufgepaßt haben.« »Sie glauben also, so etwas könnte Ihnen nicht passieren? Haben Sie nie eine Menge Zeit und Mühe in ein Vorhaben, eine Arbeit, ein Unternehmen investiert und irgendwann gemerkt, daß sich Ihre Lage mit jedem Schritt, den Sie tun, verschlimmern wird? Sie werden also, um im Bild zu bleiben, Ihre Schuhe ausziehen und den Raum auf Zehenspitzen verlassen, auch wenn Sie dabei Ihre Socken mit frischer Farbe beklek-kern.«

»Wenn es sonst nichts ist!« unterbrach ihn ein Mann, der wie ein Handwerker aussah. »Ich wäre in einem solchen Fall schon froh, wenn mir niemand bei meiner Blamage zugeschaut hätte.«

»Ich auch«, sagte Z. »Aber weniger komisch geht es zu, wenn sich nicht ein einzelner, sondern ein Kollektiv in eine ausweglose Lage begeben hat. Denn dann geht es beim Rückzug nicht ohne hohe Kosten ab. Denken Sie an eine kriegführende Armee vor der Niederlage oder an eine politische Provokation. Wer so etwas angezettelt hat, dem geht es nicht mehr darum, die Verluste zu minimieren. Er wird eher so lange weitermachen, bis alles >in Scherben fallt<, wie es in einem einschlägigen Marschlied heißt. So glaubt er, das, was ihm am teuersten ist, retten zu können: das Prestige, das er mit seiner Ehre verwechselt.« Es freue ihn, sagte Z., daß es hierzulande gewöhnlich ziviler zugehe. So könne man auch im tiefsten Frieden, ohne daß Blut flösse, die Wirtschaft ganzer Länder ebenso an die Wand fahren wie eine dilettantisch eingeführte Währung. Im reduzierten Maßstab könne man dieses Vorgehen auch an einer beliebigen Provinzbank oder an einer Drogerienkette studieren.

Carl von Clausewitz, der Klassiker des strategischen Denkens, habe diesen Mechanismus schon vor zweihundert Jahren beschrieben und erklärt, daß der Rückzug die schwierigste aller Operationen sei. Niemand scheine auf ihn gehört zu haben. »Schade«, schloß Z. diese Überlegung, »daß Einsicht offenbar nur einzelnen, niemals aber  der menschlichen  Gesellschaft vergönnt ist!«    - Hans Magnus Enzensberger, Herrn Zetts Betrachtungen oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern. Berlin 2014

Ausweglosigkeit (2) Was sollen unsere Lungen tun: atmen sie rasch, ersticken sie an sich, an innern Giften; atmen sie langsam, ersticken sie an. nicht atembarer Luft, an den empörten Dingen. Wenn sie aber ihr Tempo suchen wollen, gehen sie schon am Suchen zugrunde.  -  Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes, nach (enc)
 

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