uswanderer
Die Deutschen stehen im
Ruf eines guten Charakters, nämlich
dem der Ehrlichkeit und Häuslichkeit; Eigenschaften, die eben
nicht zum Glänzen geeignet sind. - Der Deutsche fügt sich, unter
allen zivilisierten Völkern am leichtesten und dauerhaftesten,
der Regierung, unter der er ist, und ist am meisten von Neuerungssucht
und Widersetzlichkeit gegen die eingeführte Ordnung
entfernt. Sein Charakter ist mit
Verstand verbundenes Phlegma; ohne weder über die schon eingeführte
zu vernünfteln, noch sich selbst eine auszudenken. Er ist dabei
doch der Mann von allen Ländern und Klimaten, wandert leicht
aus und ist an sein Vaterland nicht leidenschaftlich gefesselt;
wo er aber in fremde Länder als Kolonist hinkommt, da schließt
er bald mit seinen Landesgenossen eine Art von bürgerlichern
Verein, der durch Einheit der Sprache, zum Teil auch der Religion,
ihn zu einem Völkchen ansiedelt, was unter der höheren Obrigkeit
in einer ruhigen, sittlichen Verfassung durch Fleiß, Reinlichkeit
und Sparsamkeit vor den Ansitzungen anderer Völker sich vorzüglich
auszeichnet.
- Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht (1798)
Auswanderer (2) Eine Szene dehnte sich aus. Eine Art künstlicher Röhre, die aus dem roten, ausgetrockneten Boden aufragte. Ein Entlüftungsloch - unterirdische Behausungen. Der Blickwinkel änderte sich. Er schaute hinunter, tief ins Innerste des Planeten - Schicht um Schicht zusammengebrochener Felsen. Ein vertrockneter, zerfurchter Planet ohne Feuer, Leben oder irgendeine Art von Feuchtigkeit. Seine Haut zerbarst, seine Masse trocknete aus und wurde in Staubwolken in die Luft geweht. Tief unten im Innersten eine Art Tank - eine Kammer, ins Herz des Planeten versenkt.
Er befand sich im Inneren des Tanks. Überall waren Wanzen, sie glitten und bewegten sich umher. Maschinen, verschiedenste Anlagen, Gebäude, Reihen von Fabriken, Generatoren, Wohnhäuser, Räume voller komplizierter Apparaturen.
Einige Bereiche des Tanks waren verschlossen - fest verriegelt. Rostige Eisentüren - Maschinen, dem Verfall preisgegeben - verstopfte Ventile, rostende Rohre - geborstene, zerbrochene Skalenscheiben. Verhedderte Kabel - fehlende Zähne an den Getrieben - mehr und mehr Bereiche waren geschlossen. Weniger Wanzen - immer weniger ...
Die Szenerie wechselte. Die Erde, aus großer Entfernung gesehen - eine weit entfernte, grüne Kugel, die sich unter einer Wolkendecke langsam dreht. Weite Meere, kilometertiefes, blaues Wasser - feuchte Atmosphäre. Die Wanzen schweben durch die leere Weite des Raumes, schweben langsam auf die Erde zu, Jahr um Jahr. Schweben endlos, mit quälender Langsamkeit, in der dunklen Einöde.
Jetzt wurde die Erde größer. Die Szenerie war fast vertraut. Die Oberfläche eines Meeres, meilenweit schäumendes Wasser, darüber ein paar Möwen, in der Ferne eine Küstenlinie. Das Meer, hier auf der Erde. Wolken zogen über den Himmel.
Auf der Wasseroberfläche trieben flache, kreisrunde, riesige Metallscheiben. Schwimmende, künstliche Anlagen mit einem Umfang von über einhundert Metern. Wanzen lagen schweigend auf den Scheiben und sogen Wasser und Mineralien aus dem Meer unter sich.
Die Wanze versuchte, ihm etwas zu sagen, etwas über sich. Scheiben auf dem Wasser - die Wanzen wollten das Wasser benutzen, auf dem Wasser leben, auf der Meeresoberfläche. Große Scheiben auf der Oberfläche, bedeckt von Wanzen - sie wollte, daß er das wußte, daß er die Scheiben sah, die Scheiben auf dem Wasser.
Die Wanzen würden auf dem Wasser leben, nicht an Land. Nur
auf dem Wasser - sie wollten seine Erlaubnis. Sie wollten das
Wasser benutzen. Das war es, was sie ihm zu erzählen versuchte
- daß sie die Wasseroberfläche zwischen den Kontinenten benutzen
wollten. Jetzt fragte die Wanze ihn, flehte ihn an. Sie wollte
es wissen. Sie wollte, daß er etwas sagte, daß er antwortete,
daß er seine Zustimmung gab. Sie wartete, um sie zu hören, wartete
und hoffte - und flehte... - Philip K. Dick, Marsianer
kommen in Wolken. In: Ders., Variante zwei. Sämtliche Erzählungen
Bd. 3. Zürich 1995 (zuerst 1953)
Auswanderer (3) Vor elf Jahren
nach Australien ausgewandert und vor zwei Jahren wieder in seine steiermärkische
Heimat zurückgekehrt, ist mein ehemaliger Mitschüler vor einem halben Jahr wieder
nach Australien ausgewandert, obwohl er weiß, daß er wieder in die Steiermark
zurückkehren wird und sooft immer wieder nach Australien auswandern und wieder
in die Steiermark zurückkehren wird, bis er entweder in Australien oder in der
Steiermark Ruhe gefunden hat. Schon sein Vater, ein Bäckergeselle aus dem Mölltal,
der mit meinem Vater in die Schule gegangen ist, war in seinem Leben mindestens
zwanzigmal aus Kärnten in die Steiermark ausgewandert und immer wieder aus der
Steiermark nach Kärnten zurückgekehrt, bis er endlich in Kärnten seine Ruhe
gefunden hat, in Arndorf bei Sankt Veit an der Glan, wo er sich in der alten
Schmiede, die sein letztes Quartier gewesen war, aus Heimweh
nach der Steiermark, an einem eisernen Haken erhängt hat. -
Thomas Bernhard, Der Stimmenimitator. Frankfurt am Main 1978
Auswanderer (4) »Es sind die
Energischen, besser Ausgebildeten, Ehrgeizigen, die ihre Erfolgschancen im Land
ihrer Wahl suchen und dabei ein Risiko eingehen; die Armen, die Trägen, die
Schwachen und die Behinderten bleiben zurück«, heißt es bei dem amerikanischen
Ökonomen Mayo-Smith. »Man behauptet, daß es auf diese Weise zu einer
negativen Selektion im Ursprungsland kommt.« -
Richmond Mayo-Smith (ca. 1900), nach: H. M. Enzensberger, Die Große
Wanderung. 33 Markierungen. Frankfurt am Main 1993
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