Auskultieren  Er zieht ein kleines Auskultierhämmerchen aus seiner Brusttasche und überprüft seine Muskelreflexe. Vor allem am Patellarreflex, der den Unterschenkel schlenkernd vorschnellen läßt, kann er sich kaum sattsehen. Zwischendurch bemerkt er zuerst flüchtig, dann immer aufmerksamer, die Genicke zweier Zuschauer in der letzten Sitzreihe, die zu einem fetten Herrn mit fleckiger Melone, beziehungsweise einem mageren mit einem unvollständig entfalteten chapeau claque gehören. Unversehens, beinahe zufällig, vollführt das Hämmerchen einen Hieb gegen das hagere Genick. Das empörte Profil eines Menschenfeinds wird sichtbar. Er rüttelt seinen tief in die Betrachtung des Zeitlupenrennens versunkenen Nachbarn am Ärmel und macht ihm gehässige Vorhaltungen. Der Dicke, gutmütige Pausbäckchen und wabbelndes Doppelkinn, zeigt eine verständnislose Miene. Mit weitausholender Geste und fragendem Faltenspiel deutet er auf seine Brust und schüttelt langsam den Kopf. Die Lage normalisiert sich wieder.

Aber im Zuge der fortgesetzten Vergnügungen des kleinen Herrn rutscht das Hämmerchen auch mal über den Nacken des fetten Zuschauers aus. Der wendet sein zorngeblähtes Gesicht dem dürren Nebenmann zu, schüttelt ihn kräftig und knufft ihn mit dem Handrücken vor den Bauch. Wieder sehen Sie den Herausgeforderten im Profil, ein langer, haßerfüllter Blick ruht auf dem Nachbarn. Mit einem blitzschnellen Stoß seiner knochigen Faust in den puddingartigen Bauch des Feindes wird ein Ausgleich herbeigeführt.

Die beiden Herren erheben sich gleichzeitig, ihre Sitze klappen hoch, die Herrschaften zu beiden Seiten rücken indigniert ab. Man klettert über die Sitzrückwände nach hinten, um Bewegungsfreiheit zu gewinnen. Beide Parteien entledigen sich ihrer Jacketts, falten sie sorgsam zusammen und krönen das Päckchen mit ihrer Kopfbedeckung. Sie rollen sich systematisch die Hemdsärmel bis zum Oberarm. Nun stehen sie sich gegenüber und messen sich mit abgründigen Blicken. Jetzt macht der Dicke eine rasche Bewegung und tritt den Kontrahenten ans Schienbein. Man hätte diese Behendigkeit gar nicht von ihm erwartet. Die Folgen sind widersprüchlich: einerseits schmerzvolles Hüpfen auf einem Bein und hilfesuchende Blicke nach oben - zum anderen behaglich übereinandergeschlagene Arme und augenscheinliche Befriedigung über das Ergebnis. Behalten Sie jedoch den Menschenfeind im Auge: er bückt sich nun - ist wie vom Schmerz gekrümmt - und: rennt seinen Kopf mit böser Heftigkeit in den unvorbereiteten Leib des Gegners. Dieser fällt zappelnd zu Boden; doch zugleich gelingt es ihm, den anderen durch einen raschen Griff ans Bein ebenfalls zum Umklappen zu bringen. Es setzt ein unübersichtliches Gewirbel ein, eine auf Grund der unterschiedlichen Dimensionen der Beteiligten stark exzentrische Kreiselbewegung. Nach allen Seiten fliegen Erdklumpen und Teile der Kleidung, radial, wie von einer Kartoffelfräse.

Der kleine Mann betrachtet nachdenklich die Folgen seines bescheidenen Scherzes. Er wirkt in sich gekehrt. Er hat seine Hände auf dem Rücken gefaltet, sie umklammern das Hämmerchen, das automatisch kleine Zuckungen vollführt.  - Walter E. Richartz, Das Happy End. Ein Stummfilm in Worten. In: W.E.R., Das Leben als Umweg. Zürich 1988

 

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