Ausglitschen  Lais an Diogenes von Sinope  Das war ein wunderliches Ereignis, das sich zwischen uns begeben hat; meinst du nicht, Diogenes? Eines von denen, die einen weisen Mann an seinen eigenen Sinnen irre machen, und das du hoffentlich nur geträumt zu haben glaubst. - Wie? was unter allen diesen stolzen, reichen, schönen und schimmernden Abkömmlingen von Göttersöhnen, die du täglich bei mir ein- und ausgehen siehst, in mehreren Jahren auch nicht einer um keinen Preis erhalten konnte, sollte Diogenes, der Zyniker, binnen wenigen Wochen, ohne alle Mühe und Arbeit, durch bloße Laune des Zufalls oder Gunst eines schwachen Augenblicks erschlichen haben? Welche Wahrscheinlichkeit? - Gleichwohl geschehen auch unwahrscheinliche Dinge, und da das Geschehene am Ende doch immer unter die natürlichen Dinge gehört, so laß uns wie ein paar verständige Personen miteinander darüber philosophieren.

Du bist mit aller deiner Unverschämtheit ein Mann, der sich nicht mehr dünkt, als er ist, und mich kennst du bereits genug, um dich nicht zu verwundern, daß ich unter deiner rauhen struppichten Hülle das feine Gefühl sehr bald ausfindig gemacht habe, das du darunter zu verbergen suchst. Du kannst von mir nicht schlecht denken. So wenig du dich für einen Nireus oder Phaon halten kannst, so wenig kann es dir einfaflen, daß Lais von deinen breiten Schultern und paphlagonischen Markknochen bezaubert worden sei. - Aber Lais (denkst du), und wenn sie eine Göttin wäre, ist am Ende doch - ein Weib, und ein Weib hat Augenblicke, wie selten und kurz sie auch sein mögen, wo sie ohne zu wissen wie noch warum, - schwach ist und bloß darum, weil sie sich dessen nicht versah, ausglitschen kann.

Wenn du so denkst, Freund Diogenes, und die Rede wäre von zehntausend und zehnmalzehntausend ändern Weibern, so hättest du recht; aber wenn du es von Lais denkst, so irrst du himmelweit. Ich habe in meinern Leben keinen schwachen Augenblick dieser Art gehabt. Die meinigen, wenn man sie so nennen könnte, haben mit jenen nichts gemein als - die Wirkung. Ich sagte mir selbst: »Was sind alle diese Menschen, die an mich Ansprüche machen, ihrem innern Gehalt nach, gegen diesen armen Paphlagonier, auf den sie so vornehm heruntersehen! Und doch würde es Diogenes für die lächerlichste Anmaßung halten, wenn ihm einfiele, sich unter jene Übermütigen zu stellen, die ein Recht an mich zu haben wähnen, weil ich schön und reizend bin und in zwangloser Freiheit lebe. Seine Bescheidenheit soll belohnt werden! Der Mann, der, um den Göttern ähnlich zu werden, ein elendes Leben führt, soll einen Augenblick in seinem Leben gehabt haben, wo er ihnen an Wonne ähnlich war.« - Hier hast du das ganze Geheimnis, mein guter Zyniker! - Mache nun einen weisen Gebrauch davon und um deiner selbst willen suche nie wieder mich allein zu finden!

  - Christoph Martin Wieland, Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Frankfurt am Main 1984 (it 718, zuerst 1802)

 

Glitschig Ausrutscher

 

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