usbrennen  Paris. 27. Dezember 1928. Donnerstag Abends Vorstellung von Diaghilews Ballett in der Oper. Strawinskys ›Rossignol‹ und ›Petruschka‹. Nachher in den Gängen hinter der Bühne, wo ich auf Diaghilew wartete, kommt dieser mit einem kleinen, hageren Jungen in einem zerschlissenen Mantel auf mich zu und sagt: »Kennen Sie ihn nicht?« Ich: »Nein, wirklich, ich kann mich nicht besinnen.« Diaghilew: »Aber es ist doch Nijinski!« Nijinski! Ich war wie vom Donner gerührt. Das Gesicht, das so oft wie das eines Gottes geleuchtet hatte, Tausenden ein unvergeßliches Erlebnis ist, grau, schlaff, leer, nur noch flüchtig von einem verständnislosen Lächeln, einem kurzen Schein wie von einer verflackernden Flamme erleuchtet. Kein Wort kam über seine Lippen. Diaghilew hatte ihn unter einem Arm gefaßt; um die Treppe, drei Etagen, hinunterzugehen, bat er mich, ihn unter den andren Arm zu fassen, weil er, der früher über Häuser springen zu können schien, unsicher, ängstlich von Stufe zu Stufe sich heruntertastet. Ich packte ihn, drückte ihm die dünnen Finger, versuchte ihn durch freundliche Worte zu ermuntern; verständnislos, aber unendlich rührend blickte er mich aus großen Augen wie ein krankes Tier an.

Mühsam, langsam stiegen wir die drei endlosen Etagen hinunter, er schwer auf uns beide sich stützend, bis zu seinem Wagen, in den er, ohne ein Wort gesprochen zu haben, hinein-gehoben wurde. Ganz stumm setzte er sich zwischen zwei Frauen, die ihn zu betreuen schienen, und fuhr ab. Ob er Petruschka, seine Glanzrolle, erkannt hat, wußte man nicht. Aber Diaghilew sagte, er habe wie ein Kind aus dem Theater nicht wieder fortgewollt. Zum Abschied küßte ihn Diaghilew auf die Stirn. Ich ging nachher noch mit Diaghilew ins Restaurant de la Paix, wo wir mit Karsawina, Misia Sert, Craig, Alfred Savoir bis spät saßen; aber ich war nicht bei der Sache, konnte über dieses Wiedersehen mit Nijinski nicht hinweg.

Ein Mensch, der ausbrennt . . . Unfaßbar! Vielleicht noch unfaßbarer, tragischer, wenn ein Verhältnis, eine Leidenschaft zwischen zwei Menschen ausbrennt, nur noch ein leises Aufflackern den hoffnungslosen Leichnam flüchtig erleuchtet. - Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918 bis 1937. Hg. Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt am Main 1982 (it 659)

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