ugenmacher   Der Bahnhofsplatz lag schon in fahlem Licht. Der Graue schritt ohne Eile und kleine Melodien pfeifend durch die noch leeren Straßen; ich hielt mich neben ihm als jämmerlicher Klient. Es war mir dumpf und unheimlich zumute; ich ahnte, daß ich in böse Fänge geraten war. Was mochte er von mir wollen, was plante er gegen mich? Zum ersten Mal ergriff mich wie ein feiner Schmerz die Sehnsucht nach der Kinderzeit. Was hatte ich aber zu verlieren in dieser Dämmerung vor dem Nichts?

Wir waren bald am Ziel. Der Unbekannte hielt vor einem der hohen Geschäftsgebäude, die ganz und gar mit Firmenschildern und Reklamen verhüllt sind wie mit buntem Lappenwerk. Wir traten ein, ein Fahrstuhl brachte uns empor. Der Graue öffnete eine Türe, über deren Klingel ich seinen Namen las: »DR. FANCY, Augenarzt. Sprechstunden nur nach Vereinbarung.«

Ein kahler Vorraum führte in die Praxis, die der Werkstatt eines höchst intelligenten Handwerkers glich. Ein Tisch trug Brillen und optische Instrumente, und an den Wänden hingen Tafeln mit Ziffern und Buchstaben. Es war ein Raum, in dem der rechte Winkel und die gerade Linie herrschten; er schien mir ganz von scharfen, mitleidlosen Strahlungen erfüllt. Besonders fiel mir ein Kasten mit Glasaugen auf. Sie lagen auf rotem Sammet und leuchteten in Farben, die die des Lebens übertrafen und eher an Opale erinnerten. Sie deuteten auf einen Augenmacher ersten Ranges hin.

Der Doktor Fancy nötigte mich in einen Wachstuchsessel und nahm mir gegenüber auf einem Schemel Platz. Er hatte jetzt einen weißen Kittel angelegt. Er blickte mir scharf in die Augen; es schien mir, als ob aus seinen fast punktförmigen Pupillen zwei feine Strahlen in mich eindrängen. Mir wurde schläfrig, doch hörte ich genau die Sätze, die er langsam und mit unwiderstehlich sanfter Stimme zu mir sprach.

»Ich werde Sie nicht unnütz aufhalten. Seit langem sind Ihre geheimen Wünsche mir bekannt. Sie waren, wenngleich unklar,  auf dem rechten Wege; Sie sollen belohnt werden. Sie ahnten,  daß es zwei Sorten von Menschen gibt: die Toren und die Wissenden. Die einen sind die Sklaven, die anderen die Herren dieser Welt. Worauf nun beruht der Unterschied? Ganz einfach darauf, daß zwei große Gesetze im Universum wirken: der Zufall und das Notwendige. Merken Sie wohl: es gibt nichts außerdem. Die Sklaven regiert der Zufall; die Herren bestimmen ihn. Es gibt im namenlosen Heer der Blinden einige Geister,  die sehend sind.«

Die Stimme schläferte mich ein. Der Rausch kam stärker als vorhin. Ich hörte,  daß der Doktor sich mit Instrumenten beschäftigte. Dabei fuhr er gemessen,  doch höchst eindringlich in seinem Vortrag fort,  von dem mir kein Wort entging:

»Die Welt ist nach dem Vorbild der zwiefachen Kammer,  der Chambre double,  ausgeformt. Wie alle Lebewesen aus zwei Blättern, so ist sie aus zwei Schichten angelegt, die im Verhältnis von Innen- und Außenseite stehen und von denen die eine höhere, die andere mindere Wirklichkeit besitzt. Doch wird die mindere Wirklichkeit bis in die feinsten Züge von der höheren bestimmt.

Nun denken Sie sich folgendes: Sie halten sich mit einer großen Gesellschaft in dieser Kammer oder in diesem Saale auf. Man spielt, man debattiert, man treibt Geschäfte,  kurzum man tut,  was Menschengewohnheit ist. Für die uneingeweihten Gäste werden die Dinge und ihre Konstellationen in diesem Saale mehr oder minder dem Zufall anheimgegeben sein. Daher vermag auch keiner unter ihnen mit Sicherheit zu sagen,  was selbst die nächste Minute bringt. Hier herrscht das Unvorhergesehene,  die blinde Kraft.

Jetzt denken Sie weiter: Der Saal ist noch von einer zweiten Schicht umkleidet,  die unsichtbar wie eine Aura ist. Sie sei fast ohne Ausdehnung,  doch signifikativ. Sie stellen sich diese Schicht als eine Art Tapete vor, durchwoben von Bild- und Ziffernschriften,  die man übersieht. Ich werde Ihnen die Schuppen von den Augen nehmen,  und voll Erstaunen entdecken Sie,  daß diese Charaktere den Schlüssel zu allen Vorgängen bilden, die sich im Saal abspielen. Sie glichen bislang einem Menschen, der nächtlich der Bahn der Sterne folgte,  doch ohne Kenntnis der Astronomie. Nun sind Sie wissend, und Ihre Macht gleicht jener der alten Priesterschaften, die Mond- und Sonnenfinsternisse verkündeten. Sie haben die Weihen angenommen, die Ihnen magisches Fürstentum verleihen. In dieser Welt verbirgt sich das Geheimnis; es gibt keine andere. Sie werden mir ewig dankbar sein.«

Bei diesen Worten beugte Doktor Fancy sich über mich. Ich sah, daß er die Stirn mit einem Band umgürtet hatte, das einen runden, in der Mitte durchbrochenen Spiegel trug. Mit einer Handbewegung brachte er meinen Stuhl in horizontale Lage und näherte sich mir mit einer spitzen Glasröhre.

»Ein Irrer - der Kerl will dir die Augen ausbeizen!«

Ein eisiger Schreck durchfuhr mich; ich konnte kein Glied regen. Ich sah ihn den Spiegel herunterdrehen; er blickte mich wie durch ein ungeheures, doch leeres Auge an. Ich hörte ihn murmeln: »Der Brandy hat gewirkt.«

Die Haare sträubten sich mir. Ich öffnete den Mund, doch löste sich kein Schrei aus meiner Brust. Er brachte die Röhre über meine Augen und ließ zwei Tropfen, die wie Scheidewasser brannten, hineinfallen. Der Schmerz war unerträglich; es wurde dunkel, und ich fühlte, daß ich in Ohnmacht fiel.

Als ich erwachte, hatte Doktor Fancy den Stuhl schon wieder emporgeschraubt. Er tupfte mir mit einem Wattebausch die Augen aus.

»Es hat wohl ein wenig weh getan? Nun, ohne Schmerz keinen Preis. Darüber sind Sie nun hinweg. Wir sind jetzt fertig, und ich wiederhole: Sie werden mir dankbar sein.«

Ich wagte kaum zu glauben, daß ich davongekommen war. Vorsichtig blickte ich mich nach einem Werkzeug, mit dem ich ihn notfalls zu Boden schlagen könnte, im Räume um. Dann sagte ich höflich:

»Herr Doktor, Sie haben jetzt Ihren Spaß an mir gehabt. Nun lassen Sie mich bitte gehen - ich fühle mich sehr schwach.«

Mehr um ihn in Sicherheit zu wiegen, fügte ich hinzu: »Wenn Sie mir ein kleines Zehrgeld reichten, würde ich Ihnen dankbar sein.«

Der Doktor lachte: »Krösus bittet um eine milde Gabe - nun gut, man hört ja auch, daß Milliardäre oft ohne Kleingeld sind.«

Er trat an seinen Schreibtisch und gab mir, ohne nachzuzählen, ein Bündel Scheine: »Verwenden Sie zunächst die kleinen Noten, solange Sie noch in diesem Aufzug sind. Sonst wird man Sie einstecken.«

Er blickte mich noch einmal an wie jemand, der mit seinem Werk zufrieden ist: »Sie werden freilich bald erkennen, daß Schloß und Riegel nicht für Ihresgleichen geschaffen sind. Sie stehen jetzt über dem Gesetz.«  - Ernst Jünger, Ortners Erzählung, nach: E. J., Ausgewählte Erzählungen. Stuttgart 1985 (Aus: Heliopolis 1949)

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