ufbruch  Da war ein frischer junger Mann aus Schan-tung, der das erste Examen mit Auszeichnung bestanden hatte. Er hatte seinen Vater, der allein im Fischerboot ausgefahren war, aus schwerster Seenot gerettet; ehe er dem Vater nachfuhr, gelobte er, den Wu-wei-Anhängern zu folgen. Und so ging er, kaum daß die freudevollen Examensfeiern vorbei waren, still aus dem Haus. Es war ein ehrerbietiger, etwas scheuer Jüngling, mit eingekellerten Augen, der sichtlich schwer unter seinem seelischen Zwiespalt litt.

Ein Bohnenhändler, ein rippendürrer Mann, lebte fünfzehn Jahre in kinderloser Ehe. Er grämte sich tief, daß niemand nach seinem Tode für ihn beten würde, seinen Geist speisen und pflegen würde. Als er fünfundvierzig Jahre alt wurde, verließ er seine Heimat.

Tsin war ein reicher Mann vom Fuße des Tschan. Er lebte in dauernder Wut, weil er, wie sehr er sein Geld schützte, alle Monate bestohlen wurde, wenn auch nur um Kleinigkeiten. Dazu kamen Erpressungen durch die Polizisten, Steuerbeamten; mehrmals brannten Häuser von ihm ab, von Böswilligen angesteckt. Er fürchtete, daß er eines Tages ohne Habe und Gut dastehen würde. Er fühlte sich macht- und rechtlos. Da verschenkte er sein ganzes Geld an blinde Musikanten, alte Hurenwirtinnen, Schauspieler; zündete selbst sein Haus an und ging in den Wald.

Junge Wüstlinge zusammen mit Dirnen, die sie aus den bemalten Häusern befreit hatten, wanderten herzu. Oft sah man die Dirnen, die zu den verehrtesten Schwestern gehörten, in eigentümlichen Verzückungen unter den purpurnen Kallikarpen, in den Hirsefeldern, und hörte sie unverständlich stammeln.

Sechs Freundinnen vom nördlichen Kaiserkanal, die man als Kinder verheiratet hatte, sprangen in dem Monat, in dem sie in das Haus ihrer Gatten gebracht werden sollten, mit einer Pferdekette aneinandergebunden, unterhalb ihrer Heimatstadt in den Kanal. Sie wurden, da sie beim Hineinstürzen sich an den Ufermauern verletzten, hängen blieben und laut schrien, gerettet von einigen vorüberziehenden Karrenschiebern, welche sie auf das nächste Polizeigewahrsam transportierten, nachdem sie die ganz willenlosen Mädchen mit Kleiderfetzen zur Not verbunden hatten. Als sie, auf dem Amt freundlich verpflegt, sich erholten und zurecht machten, kamen ihreVäter draußen angestürzt. Die Mädchen hörten die lärmende Auseinandersetzung mit denWachen, stiegen durch ein hinteres Fenster hinaus und. entkamen. Sie schlugen sich von Ortschaft zu Ortschaft durch, hielten sich in einer geschützten Berghöhle verborgen, verschafften sich durch Aushilfsarbeit auf den umhegenden Gehöften, in den Mühlen Nahrung. Die Jüngste von ihnen, ein fünfzehnjähriges blühendes Mädchen, die Tochter der Nebenfrau eines alten Lehrers, starb da, indem ihr ein Räuber Gewalt antat und sie dann erwürgte. Der Räuber trat nicht viel später zusammen mit den Mädchen einer Gruppe der Sektierer bei.  - Alfred Döblin, Die drei Sprünge des Wang-lun. München 1970 (zuerst 1915)

Aufbruch (2)

Aufbruch

- Charles M. Schulz, You're a brave man, Charlie Brown. London 1970

Aufbruch (3)   Sie wäre schon beim Überqueren der ersten Fahrbahn ums Haar unter einen Laster geraten. Und schon vorher hätte das zuschnappende Gartentor ihr beinah die Finger abgeklemmt. Und schon im Haus hatte sie, das Gepäck in der Hand, eine der mehreren Treppen da übersehen und befand sich für einen heißen Moment auf der Kippe zu einem großen Fall (eine ihr natürlich unbekannte junge Nachbarsfrau - nur ich weiß von dem Unfall, und kaum jemand teilt meinen Jammer - ist auf diese Weise vor kurzem in den Tod gestürzt). - Peter Handke, Der Bildverlust. Frankfurt am Main 2002

Aufbruch (4) Ich warte auf Gott mit leckerhafter Begierde. Ich bin von minderwertiger Rasse, von aller Ewigkeit her.

Und nun finde ich mich an der armorikanischen Küste. Wie die Städte sich im Abend entzünden! Mein Tagewerk ist vollbracht. Ich verlasse Europa. Die Luft des Meeres wird mir die Lunge verbrennen; die einsamen Himmelsstriche werden mir die Haut beizen. Schwimmen, das Gras brechen, jagen, vor allem rauchen, Säfte trinken, stark wie kochendes Metall, — so wie es die teuren Ahnen taten, wenn sie um ihre Feuer gelagert waren.

Ich werde zurückkehren, mit Gliedern von Eisen, mit dunkler Haut, mit wilden Augen: Beim Anblick meiner Fratze wird man glauben, ich gehörte zur Rasse der Starken. Ich werde Gold haben: Ich werde nichts tun und brutal sein. Die Frauen pflegen solche wilden Kranken, die aus den Tropen zurückkehren. Ich werde mich in die Politik mischen. Gerettet.

Jetzt bin ich verwünscht, mir graut vor dem Vaterlande. Das Beste wäre, in tiefem Rausch am Meeresstrand zu schlafen. - Arthur Rimbaud, Eine Zeit in der Hölle. Nach (rim)

Aufbruch (5)  Gott, wie wenig Menschen trifft man, deren Reisetaschen man durchsuchen möchte! . . . Und doch würde jeder einzelne auf gewisse Worte oder Gesten höchst wunderlich reagieren! .. . Schöne Marionettensammlung — mit allzu sichtbaren Drähten! Entweder Schufte oder Waschlappen! Lafcadio, ich frage dich, kann ein Kerl wie du solche Komödie ernst nehmen? . . . Also los: es ist Zeit! Schwing dich einer neuen Welt entgegen, und preß zum Abschied deine nackte Ferse in den Lehm des europäischen Bodens! .,. Solltest du in den Urwäldern von Borneo irgendeinem verspäteten Affenmenschen begegnen, so kannst du über die Möglichkeit einer besseren Erdenrasse nachdenken!  - André Gide, Die Verliese des Vatikan. München 1975 (dtv 1106, zuerst 1914)

Aufbruch (6)  In einem Stadion wurde ein Volksfest gefeiert. Ich bin mit einer größeren Gesellschaft in zwei übervollen Autos dorthin gekommen. Wir wollten im Stadion eigentlich nur kurz unterbrechen und dann noch an einen anderen Ort weiterfahren. Aber nun saßen wir schon bis in den Nachmittag hinein auf der Festwiese fest, wo Tische und Bänke aufgestellt waren und Getränke ausgeschenkt wurden. Ich wollte längst aufbrechen und versuchte auch die anderen zum Aufbruch zu überreden und zu drängen. Aber immer wenn die Insassen des einen Autos dazu bereit waren und aufzustehen begannen, waren die des anderen Autos gerade wieder durch neu bestellte Getränke oder Gespräche mit eben getroffenen, vorbeikommenden Bekannten festgehalten. Umgekehrt, wenn dann diese startbereit waren, hatten wieder einige der ersten Gruppe etwas nachbestellt oder neue Gespräche und Bekanntschaften angeknüpft. Und waren dann sie endlich zum Aufbruch geneigt, wollten wieder die Leute vom anderen Auto noch bleiben und so fort. ..

Ich agitierte die ganze Zeit fürs Weiterfahren und versuchte nun j eden einzelnen der Zögernden oder Unentschlossenen für den Aufbruch umzustimmen. Schließlich spalteten sich die beiden Autogruppen und formierten sich um. Einige Mitfahrer unseres Wagens schlössen sich den trink- und festfreudigen Insassen des zweiten Autos an. Andere vom zweiten Auto, die weiterfahren wollten, waren bereit, ihre Autoplätze mit den unentwegt Seßhaften zu tauschen. So hatte ich glücklich alle Fahrwilligen animiert, in das erste Auto umzusteigen. Die anderen sollten im zweiten Auto nachkommen, wann sie wollten.

Doch als sich die erste Gruppe endlich reihum verabschiedet und von den Zurückbleibenden losgelöst hatte, waren es plötzlich zu viele, etwa anderthalb Wagen voll, die abfahren wollten. Nun fingen sie wieder an zu diskutieren und um die Autoplätze zu streiten und zu handeln. Keiner von denen, die sich schon einmal zum Aufbruch entschlossen hatten, wollte jetzt gerne zurückstehen und noch dableiben. Aber sie gingen beim besten Willen nicht alle in das eine Auto. Ein großes Durcheinander und Pallaver gab es auch beim Bezahlen der Zechen: Ein wechselseitiges Abwarten, wer hält wen frei, oder ein sich überbietendes Zuvorkommen, »darf ich das für Sie übernehmen?«. Und das Streiten mit den Kellnerinnen, was und wieviel man gehabt hat, zu zahlen hat, bzw. was schon bezahlt ist.

Einig war man sich nur darüber, daß die ursprünglichen Insassen des ersten Wagens den Vortritt hatten, aber nicht darüber, wer von den anderen Startbereiten noch mitfahren dürfe. Deshalb versuchten diese nun wieder, auch noch den sitzfesten Rest der Gesellschaft zum Aufbruch zu bewegen. Da sich Paare oder Freundschaften von Gruppe zu Gruppe gebildet hatten, waren die alten Wagengemeinschaften sowieso durcheinander geraten. Damit sie nicht wieder getrennt wurden, redeten also alle Abfahrwilligen umso eifriger auf die verbliebenen Hocker ein. Wir wollten noch vor Einbruch der Dunkelheit am Ziel sein. Aber es dämmerte schon, als endlich alle vor den Autos versammelt waren. Durch die Paarbildungen auf der Festwiese, die offenbar nicht nur zwischen den zwei Autogruppen stattgefunden hatten, hatte sich die ganze Gesellschaft inzwischen jedoch so vergrößert, daß der eine Wagen gleich gefährlich überfüllt war und der Fahrer des anderen die vielen Hineindrängenden mit der Verkündung einer Panne erschreckte. Nach erneutem langem Palavern einigte man sich darauf, noch ein Taxi zu mieten und darin den »Überhang« unterzubringen. Da es in der Festgegend weit und breit keine Taxis mehr gab, ging ich in die Stadt hinein, um eines zu holen und trieb mit Müh und Not einen alten Kasten auf. Als wir bei der Wiese vorfuhren, hatten sich inzwischen schon wieder einige der Wartenden zum Trinken niedergelassen. Und keiner wollte gerne in das Taxi steigen, weil er Angst vor der teuren Rechnung für die weite Fahrt hatte und daß er mehr bezahlen müsse als die anderen. Ich versuchte nun alle darauf zu einigen, daß jeder den gleichen Beitrag zu den Taxikosten bezahlen solle, gleich ob er mit dem Taxi oder einem der beiden Privatautos fahren wird. Ich schlug dann in der Diskussion darüber noch eine soziale Staffelung des Fahrbeitrags vor, was die Sache allerdings noch mehr verkomplizieren würde, weil sich manche plötzlich für ärmer erklären würden, als sie von anderen eingeschätzt werden usw. Während dieser Debatte, noch vor der Abfahrt, wachte ich auf.   - Wolfgang Bächler, Traumprotokolle. München 1972

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Erwartung