tem Wenn
man nach der ursprünglichen, heute unter dem Talmi der Gesellschaft verborgenen
Bedeutung der Poesie sucht, so stellt man fest, daß
sie der wahre Atem des Menschen ist, die Quelle allen Erkennens und dieses Erkennen
selbst in seiner makellosesten Erscheinungsform. In ihr verdichtet sich das
gesamte geistige Leben der Menschheit, seit sie begonnen hat, sich ihrer Natur
bewußt zu werden; in ihr leben jetzt ihre erhabensten Schöpfungen fort, und
wie die ewig fruchtbare Erde hält sie unablässig einen Vorrat farbloser Kristalle
und künftiger Ernten bereit. Schutzgottheit mit den tausend Gesichtern, nennt
man sie hier Liebe, dort Freiheit, anderswo Wissenschaft. Sie ist stets allgewaltig,
gärt in der mythischen Erzählung des Eskimos, blitzt auf im Liebesbrief, mäht
das Erschießungskommando nieder, weiches den Arbeiter exekutiert, der einen
letzten Seufzer von sozialer Revolution, also von Freiheit, aushaucht, leuchtet
auf in der Entdeckung des Gelehrten, ist noch, blutlos dahinschwindend in den
törichtsten Hervorbringungen, die sich auf sie berufen, spürbar, und die Erinnerung
an sie, ein Lobgesang, der Grabrede sein möchte, fühlt man noch in den mumifizierten
Worten des Priesters, ihres Mörders, denen der Gläubige lauscht, der blind und
taub sie sucht im Grab des Dogmas, wo sie nur mehr eitler
Staub ist. - Benjamin
Péret, Die Schande der Dichter. Prosa, Lyrik, Briefe. Hamburg 1985 (edition nautilus)
Atem
(2) »Ich möchte reformieren - zuerst die Gesellschaft, und dann,
durch die Gesellschaft, die Kirche.
Irrtümer haben sich eingeschlichen . . . verderbte
Glaubensanschauungen . . . gewisse schamlose abergläubische Vorstellungen
. . . Tollkühne Anmaßungen, die in den Schriften durch nichts begründet
sind.«
Mick bedachte dies. »Meinen Sie Fragen des Dogmas? Derlei Angelegenheiten
können höchst kompliziert sein.«
»Strenge Befolgung der Worte Gottes«,
knüpfte Joyce an, »wird alle Ränke des Satans beschämen.
Beherrschen Sie die hebräische Sprache?« »Ich fürchte, nein.«
»Ach, das tun allzu wenige. Das Wort ruach ist überaus wichtig.
Es bedeutet Atem oder Blasen. Auf lateinisch nennen wir es spiritus.
Das griechische Wort lautet pneuma. Erfassen Sie die Bedeutungskette,
die wir hier vor uns haben? All diese Wörter bedeuten Leben. Leben, und
den Lebensodem. Gottes Atem im Menschen.«
»Bedeuten diese Wörter ein
und dasselbe?« »Nein. Das hebräische ruach bezeichnete lediglich
das Göttliche Wesen, das der Menschwerdung vorausging. Später bezeichnete
man damit die Entflammung, sozusagen, des geschaffenen Menschen durch den
Atem Gottes.«
»Ich finde das nicht sehr klar.«
»Nun . . . man braucht Erfahrung, wenn man versuchen will, himmlische Konzepte in irdische Worte zu fassen. Dieses Wort ruach will doch letztlich nicht die immanente Energie Gottes beschreiben, sondern vielmehr seine transzendente Energie, welche dem Menschen die göttlichen Inhalte vermittelt.«
»Wollen Sie damit sagen, der Mensch sei teilweise Gott?« »Bereits die vorchristlichen Griechen gebrauchten pneuma, um die grenzenlose und allmächtige Persönlichkeit Gottes zu bezeichnen; und die körperlichen Sinne des Menschen gibt es nur kraft der Immanenz dieses pneuma. Es ist Gottes Wille, daß der Mensch eine Ausgießung Seines pneuma erfahre.«
»Nun . . . das ist kaum zu bestreiten, oder? Das, was Sie pneuma nennen, unterscheidet den Menschen vom Tier?« »Wie Sie wollen, aber es wäre falsch zu sagen, allein der Umstand, daß der Mensch — charismatischerweise — ruach oder pneuma besitzt, mache ihn teilweise zu Gott. Gott ist zwei Personen, der Vater und der Sohn. Sie existieren in Hypostase. Aus der Erwähnung beider göttlicher Personen im Neuen Testament geht das ganz klar hervor. Worauf ich Ihr besonderes Augenmerk lenken will, das ist der Heilige Odem - der Heilige Geist, um die gebräuchlichere Benennung zu verwenden.«
»Und was ist mit dem Heiligen Odem?«
»Der Heilige Odem war die Erfindung
der Sorgloseren unter den frühen Kirchenvätern.
Wir haben es hier mit einer Verwirrung von Gedanken
und Sprache zu tun. Diese armen ignoranten Männer
brachten pneuma mit dem, was sie das Wirken des Heiligen Odem nannten,
in Verbindung, wo es doch lediglich eine Ausschwitzung Gottes, des Vaters,
ist. Pneuma ist eine Aktivität des existierenden Gottes, und es
ist ein beklagenswerter und schändlicher Irrtum, wenn man pneuma
als eine hypostatische Dritte Person identifiziert. Widerwärtiger Unsinn!«
Mick nahm sein Glas und starrte verzagt hinein. »Demnach glauben Sie
nicht an den Heiligen Geist, Mr Joyce?«
»Es steht kein einziges Wort über den Heiligen Geist oder die Dreieinigkeit
im Neuen Testament.« »Ich bin nicht. . . sehr bewandert in biblischen Studien.«
Joyce's leises Murren klang nicht böse.
»Natürlich sind Sie das nicht,
denn Sie wurden als Katholik großgezogen. Genausowenig wie der katholische
Klerus. Diese alten Disputanten, Rhetoriker und Theologisierer, die man
kollektiv als die frühen Kirchenväter bezeichnet, waren Armleuchter, wenn
sie sich Ideen in den Kopf setzten und dann annahmen, Gott habe sie ihnen
direkt eingegeben. Das Konzil von Alexandria versuchte im Jahre 562, die
Arianische Kontroverse zu beenden, und nachdem es die Naturgleichheit des
Sohnes und des Vaters bestätigt hatte, fuhr es einfach fort und verkündete
die Übertragung einer dritten Hypostase auf den Heiligen Odem. Ohne Buh-Rufe
und ohne die Sache überhaupt zu debattieren! Heiliger Strohsack; man sollte
doch wirklich annehmen, daß sie ein bißchen mehr Verstand gehabt hätten,
oder?« »Ich hatte es immer so verstanden, daß Gott aus drei göttlichen
Personen besteht.«
»Da sind Sie eben nicht früh genug aufgestanden, mein Junge. Der Heilige
Geist wurde nicht vor dem Konzil von. Konstantinopel 581 offiziell erfunden.«
Mick fingerte an seinem Kinn herum. »Meine Güte«, sagte er. »Ich frage
mich, was die Patres vom Heiligen Geist dazu sagen würden.«
Joyce pochte
lärmend mit seinem Glas auf die Tischplatte und verlangte brummend nach
der Bedienung, welche erschien und die Gläser forträumte. Dann zog er ausgiebig
an seiner Zigarre.
»Aber eins kennen Sie doch«, fragte er, »das Glaubensbekenntnis von Nikäa.«
»Das kennt doch wohl jeder.«
»Ja. Der Vater und der Sohn wurden auf dem Konzil von Nikäa peinlich
genau definiert, und der Heilige Odem wurde kaum erwähnt. Augustinus
war eine schwere Bürde für die Frühkirche, und Tertullian spaltete
sie, daß sie klaffte. Er bestand darauf, daß sich der Heilige Geist vom
Vater und vom Sohn herleite - quoque, wissen Sie. Die Ostkirche
wollte mit einer derartigen Irrlehre nichts zu tun haben. Schisma!« -
Flann O'Brien, Aus Dalkeys Archiven. Frankfurt am Main 1982 (BS 623,
zuerst 1964)
Atem (3) Dann kam die Wartezeit, lange
Stunden. Ich habe sie deutlich in Erinnerung. Nach der ersten Stunde war es
nicht mehr nötig, irgend etwas für meinen Vater zu tun. Er lag ruhig und ohne
Bewußtsein in seinem Bett, stöhnte nicht mehr, schien auch für nichts mehr ein
Gefühl zu haben. Sein Atem hastete; ich mußte ihn, fast unbewußt, nachahmen.
Dieses Atemtempo vermochte ich aber nicht lange durchzuhalten, gestattete mir
daher Ruhepausen : und hoffte, damit auch den Atem des Kranken ruhiger zu machen.
Der aber arbeitete unermüdlich weiter. Wir versuchten vergeblich, ihm einen
Löffel Tee einzuflößen. Ein wenig kehrte sein Bewußtsein immer dann zurück,
wenn er sich wehren wollte. Dann schloß er energisch die Zähne. Auch in diesem
Zustand verließ ihn seine ewige Halsstarrigkeit nicht. Schon vor Morgengrauen
ging seine Atmung anders. Sie hielt zeitweise ganz an, ging hierauf in regelmäßige
Atemzüge über, die denen eines Gesunden ähnlich waren, wurde plötzlich wieder
hastig, um dann wieder ganz auszusetzen. Es gab entsetzliche Pausen, die Maria
und ich jedesmal als den Beginn des Sterbens auffaßten. Aber die sonderbaren
Rhythmen des Atems begannen in gleichen Abständen immer aufs neue, um in gleicher
Weise abzubrechen; es waren musikalische Rhythmen von unbeschreiblicher Traurigkeit,
ohne alle Farbe. Dieses Atmen, das nicht immer gleichmäßig, aber immer gleich
geräuschvoll war, wurde fast zum Bestandteil des ganzen Raums. Und noch lange
nach jener schrecklichen Nacht ist es dort haften geblieben. -
(cos)
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