skesefeindlichkeit   Ich bin fest überzeugt, daß mein hartnäckiges Überleben, außer von den Plänen der Vorsehung oder von den Erhebungen des Karmas, davon abhängt, daß ich mich, praktisch seit meiner Geburt, niemals des Essens enthalten habe. Wahrscheinlich habe ich auch vor meiner Geburt gegessen, vermute aber, daß es sich um eine karge, entönige und aufgezwungene Kost handelte, da sie mir nicht im Gedächtnis geblieben ist; ein mir befreundeter Kinderarzt versicherte mir überdies, daß die Fetusse weder Speise- noch Weinkarte kennen, sondern wie Touristen immer dasselbe Menü vorgesetzt bekommen. Daß ich, indem ich esse, bis auf den heutigen Tag überlebt habe, bringt mich auf den Gedanken, die Speisen hätten magische Eigenschaften, enthielten wunderwirkende Geheimnisse, verborgene Wunderdinge, mit denen wir uns noch nicht hinreichend befaßt haben.

 Freilich gibt es neuerdings eine Geschichte und eine Anthropologie der Speisen, aber was ich auf den Plan rufe, ist eine Psychotheologie der Speisen, zu der Engel, Träume, Depressionen, Literatur und Liebe gehören und die uns gewissermaßen auf einer makellosen, weiten, ewigen Tafel die Milchstraße selbst auftischt — nicht zufällig hat sie einen gastronomischen Namen, der uns von zu lauter kleinen Sternenpuddings geklumpter Milch erzählt. Ich glaube, auf irgendeine Weise zieht es uns immer zu irgendeiner Speise hin, und selbst nachts, wenn wir uns in traumträchtigen Schlaf versunken wähnen, unterhalten schattenhafte Elfen insgeheim unser schwächliches Leben mit Leckerbissen, an deren Geschmack wir uns nicht ohne Staunen beim Erwachen erinnern. Auf diese Weise nehmen wir ahnungslos Tag und Nacht dieses wundervolle Gegengift gegen den Tod zu uns und, indem wir Soßen, Ravioli, Gemüse und Sorbets ins Feld führen wie ein Fechter seinen Degen, halten wir uns jenes Bild vom Leib, dessen dürre und unterernährte Gestalt in keinem Teil des Kosmos ihresgleichen findet. Ein gutes Argument zugunsten der Wiedergeburt ist das natürliche Verlangen alles einst Lebenden wiederzukehren, um aufs neue dem Speisenzauber zu frönen, und es kann sein, daß unsere Unsterblichkeit, außer von unseren richtigen Antworten beim jenseitigen Quiz, auch davon abhängt, ob wir einst eine Ente mit Orangen, ein zartes Fasanenweibchen oder ein wenig herbe flambierte Nierchen gegessen haben. Zu den Unannehmlichkeiten des mittelalterlichen Paradieses soll angeblich der Mangel an Privacy gehört haben; ich wage hinzuzufügen, daß die Entbehrung eines sommerlichen Bieres, das kühl über die Autobahn unserer Gurgel hinunterzischt, keine geringere Unannehmlichkeit darstellt.  - Giorgio Manganelli, Manganelli furioso. Handbuch für unnütze Leidenschaften. Berlin 1985
 

 

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