Arglosigkeit  Die Lady war außergewöhnlich schön mit ihrem Elfenbeinhals, ihren großen blauen Vergißmeinnichtaugen und den schweren goldenen Haarflechten. Or pur waren sie — nicht von dieser blassen Strohfarbe, die heutzutage den auszeichnenden Namen Gold in Anspruch nimmt, sondern von solchem Gold, wie es in die Sonnenstrahlen gewebt ist oder verborgen im fremdartigen Bernstein. Und diese Haare gaben ihr etwas von einer Heiligen, ohne daß man auch nur den geringsten Reiz einer Sünderin hätte verspüren können. Sie war gewiß ein interessantes Objekt für psychologische Studien. Schon früh in ihrem Leben hatte sie die wichtige Wahrheit entdeckt, daß nichts so sehr den Anschein der Unschuld erweckt als eine gewisse Arglosigkeit; und durch einige dieser sorglosen Eskapaden, die Hälfte davon wirklich harmlos, hatte sie sich alle Vorrechte einer Persönlichkeit erworben. Sie hatte mehr als einmal den Gemahl gewechselt; die Wahrheit ist, daß Debrett sie mit drei Ehen belastet; doch da sie nie ihren Liebhaber wechselte, hatte die Welt längst aufgehört, über sie zu reden. Sie war nun vierzig Jahre alt, kinderlos und hatte jene unmäßige Leidenschaft für Vergnügungen, die das Geheimnis fortwährender Jugend ist.  - Oscar Wilde, Lord Arthur Saviles Verbrechen. Stuttgart 1984 (Bibliothek von Babel 30, Hg. Jorge Luis Borges)
 
 

 Argheit Mangel Naivität 

 

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