phrodite Allzuviele
Geschichten sind aus unserer Mythologie verlorengegangen, die gerade von den
bekanntesten Gottheiten erzählten. Der Sinn der Erzählungen war in der Gestalt
der Gottheit selbst da; keine einzige Erzählung vermochte aber die ganze Gestalt
mit allen ihren Aspekten zu fassen. Die Götter lebten in der Seele unserer Vorfahren,
und sie gingen in keine Geschichte restlos ein. Es war indessen - und das ist
heute noch so - in jeder Geschichte etwas von ihnen lebendig, das zur Ganzheit
ihrer Gestalt gehörte. Die Erzählungen ihrerseits gehen nicht restlos in einem
einzigen Wort, dem Namen oder in einem Beinamen der Gottheit auf. Sie sind aber
gewissermaßen doch darin enthalten, wie etwa die Erzählung von der Geburt der
Aphrodite im Beinamen Anadyomene. So gehören
auch die erhaltenen Beinamen zur Kenntnis unserer Mythologie, und bei Aphrodite
müssen noch einige aufgezählt werden, damit alle Aspekte unserer großen Liebesgöttin
zutage treten.
Das Wort aphrodite nahm in unserer Sprache die Bedeutung von »Liebesgenuß« an. Auf dieses Geschenk der Göttin bezieht sich bei alten Dichtern das Beiwort chryse, »die Güldene«. Man darf es jedoch nicht zu eng fassen, denn es drückt zugleich die ganze Atmosphäre der Urania, der orientalischen Himmelsgöttin, aus, die auf Zypern den Beinamen Eleemon, die »barmherzige«, trug. Es ist schon eine Verengerung der Atmosphäre, wenn die Hetären die Göttin als eine von ihnen, als Aphrodite Hetaira oder Porne verehrten. In dieser verengerten Atmosphäre entstanden Kunstwerke, die die Schönheit der Göttin als Kalliglutos oder Kallipygos, »die mit dem schönen Gesäß«, mit hochgehobenem Kleide zeigten, nachdem unsere Bildhauer allmählich erreicht hatten, daß die Nacktheit der badenden Göttin ihre Betrachter nicht mehr mit Furcht erfüllte. In Sparta, wo die Frauen große Freiheiten in der Liebe besaßen, hieß Aphrodite mit demselben Beinamen »Herrin«, der sonst der Name einer Zeusgattin war: sie wurde Aphrodite Hera genannt. In einem Heiligtum der Spartaner wurde sie unter zwei Aspekten, mit zwei Beinamen, verehrt: bewaffnet, als Aphrodite Enoplios, und gefesselt, als Aphrodite Morpho, »die Gestaltete«, oder »die Gestalten Wandelnde«, wahrscheinlich ein anderer Name für jene Eurynome, die Mutter der Chariten, von der man bald hören wird, daß sie zweigestaltig und gleichfalls gefesselt war. Aphrodite hieß in Sparta auch Ambologera, »die das Alter Hinausschiebende«. In Athen hatte sie ihren Garten als Aphrodite en kepois und wurde da als Urania und älteste Moira verehrt. Am Kap Kolias, an der attischen Küste, war sie auch Genetyllis, gleich der Venus Genetrix der Lateiner, eine Schutzgöttin der Geburten. Sie führte eine Gruppe von drei Göttinnen an und erhielt wie Hekate auch Hundeopfer. Auf einer Gans reitend erscheint sie auf einem schönen Vasenbild, als Epitragidia saß sie auf einem Bock. Die Dichter nannten sie nach ihrer Lieblingsinsel Zypern Cypria oder Kypris.
Ein anderer Aspekt, zu dem gewissermaßen schon der Bock gehörte, drückt sich
in Beinamen aus, wie Melaina und Melainis, »die Schwarze«, und Skotia, »die
Dunkle«. Insofern als dadurch die Dunkelheit angedeutet wird, die sich die Liebe
gerne wählt, berührt sich dieser Aspekt mit dem vorhin geschilderten. Doch kann
die schwarze Aphrodite ebensogut an die Seite der Erinyen gehören, zu denen
sie auch gerechnet wurde. Beinamen wie Androphonos, »die Mordende«, Anosia,
»die Unheilige«, Tymborychos, »die Begrabende«, deuten ihre finsteren und gefährlichen
Möglichkeiten an. Als Epitymbidia ist sie geradezu »die auf den Gräbern«. Als
Persephaessa wird sie wie die Unterweltskönigin angeredet. Sie trägt den TitelBasili^
»die Königin«. Der Beiname Pasiphaessa,.. »die weithin Leuchtende«, verbindet
sie auch mit der Mondgöttin. All diese Züge sprechen dafür, daß es einmal Erzählungen
gab, in denen die Liebesgöttin und die Todesgöttin gleichgesetzt waren.
-
(kere)
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