Anritzen  Der Schauraum des Pianohauses hatte was Unheimliches. Bis tief in den dämmerigen Hintergrund standen Klaviere und Flügel, wie Särge oder schwarze Limousinen, mit silbernen Markennamen und unermeßlich hohen Preisen auf den Schildchen. Meistens war es menschenleer. Nur hin und wieder saß ein Kunde an einem Instrument, oder es war Herr Fellner, der einem Kunden vorspielte, und feinsinnig einem winzigen Tastenton hinterherhorchte: Fing ping ping. Draußen, auf der Straße, brummte und quietschte der Straßenverkehr. An dem großen Schaufensterglas, das beide Welten trennte, standen die Kinder. Auf Anweisung von Aas hatten sie die Scheibe mit einem zugefeilten Stahlnagel angeritzt. Täglich verfolgten sie, wie durch die Vibrationen außen und innen, durch die feinsinnigen Tastentöne, durch aufheulendes Getriebesingen, durch perlende Läufe, durch Flugzeugdröhnen, der Sprung immer länger wurde, um ganz allmählich die Scheibe zu spalten- Walter E. Richartz: Aas, das allergische Kind. In: W.E.R., Das Leben als Umweg. Zürich 1988

Anritzen (2)    Silvias Gesicht war schmerzverzerrt. Sie wich von ihm zurück und steckte rasch den Finger in den Mund. »Ich habe mich geschnitten - als du mich hochgezogen hast - an einem Nagel oder so.« Ein dünner Blutfaden lief über ihre Finger. Sie tastete in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.

»Laß mal sehen.« Er ging auf sie zu, aber sie wich ihm aus. »Ist es schlimm?« fragte er.

»Bleib von mir weg«, flüsterte Silvia.

»Was ist los? Laß mich mal sehen!«

»Rick«, sagte Silvia mit leiser, eindringlicher Stimme, »hol etwas Wasser und Heftpflaster. So schnell wie möglich!« Sie versuchte, ihr wachsendes Entsetzen unter Kontrolle zu halten. »Ich muß die Blutung stoppen.«

»Oben?« Er entfernte sich linkisch von ihr. »Es sieht gar nicht schlimm aus. Warum machst du nicht...«

»Beeil dich.« Die Stimme des Mädchens war plötzlich dunkel vor Furcht. »Rick, beeil dich

Verwirrt rannte er ein paar Stufen hoch.

Silvias Entsetzen verfolgte ihn. »Nein, es ist zu spät«, rief sie schwach. »Komm nicht zurück - bleib von mir weg. Ich bin selbst schuld. Ich habe ihnen beigebracht zu kommen. Bleib weg! Es tut mir leid, Rick. Oh -« Ihre Stimme erreichte ihn nicht mehr, als die Wand des Kellers aufbrach und zusammenstürzte. Eine Wolke aus leuchtendem Weiß drang herein und flammte im Keller auf.

Sie waren hinter Silvia her. Sie lief ein paar zögernde Schritte auf Rick zu, blieb unsicher stehen, dann ging die weiße Masse aus Körpern und Flügeln über ihr nieder. Sie schrie einmal. Dann verwandelte eine 'heftige Explosion den Keller in einen glitzernden Tanz aus glühenden Partikeln.

Er wurde zu Boden geworfen. Der Zement war heiß und trocken - der ganze Keller knisterte vor Hitze. Fenster zerbarsten, als pulsierende weiße Gestalten sich wieder hinausdrängten. Rauch und Flammen züngelten an den Wänden. Die Decke gab nach, und Putz rieselte herab.

Rick kam mühsam auf die Beine. Der wilde Tumult ebbte ab. Der Keller war ein chaotisches Durcheinander. Alles war schwarz verkohlt, angesengt und mit rauchender Asche überkrustet. Zersplittertes Holz, zerfetzte Kleidung und gesprungener Beton waren überall verstreut. Der Heizkessel und die Waschmaschine waren völlig demoliert. Das komplizierte Pump- und Kühlsystem war nur noch eine glitzernde Masse aus Schlacke. Eine ganze Wand war verschoben worden. Über allem lag zerbröckelter Putz.

Silvia war ein groteskes Knäuel verdrehter Arme und Beine und schwarzverkohlter Fetzen; eine verdorrte, ausgebrannte Schale.   - Philip K. Dick, Und Friede auf Erden. In: P. K. D.: Foster, du bist tot. Zürich 2001 (zuerst 1954)

 

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