nomalie
Was er mit besonderer Ausführlichkeit, Eindringlichkeit und
Anstrengung, sich ganz verständlich zu machen, beschrieb, war eine scheußliche
Anomalie, die er in letzter Zeit an sich wahrgenommen hatte und die darin bestand,
daß er an gewissen Tagen, das heißt bei gewisser Witterung und Gemütsverfassung,
kein offenes Fenster sehen konnte, ohne von dem gräßlichen und durch nichts
gerechtfertigten Drange befallen zu werden, hinauszuspringen - einem wilden
und kaum unterdrückbaren Triebe, einer Art von unsinnigem und verzweifeltem
Übermut! Eines Sonntags, als die Familie in der Fischergrube speiste, beschrieb
er, wie er unter Aufbietung aller moralischen Kräfte auf Händen und Füßen habe
zum offenen Fenster kriechen müssen, um es zu schließen. - Hier aber schrie alles
auf, und niemand wollte ihm weiter zuhören.
- Thomas Mann, Buddenbrooks
Anomalie (2)
- (
erot
)
Anomalie (3) Das Normale ist der Seiltänzer über dem Abgrund des Anomalen. Wieviel heimlichen Wahnsinn birgt die gewohnte Ordnung - du weißt selber nicht, wann und durch welchen Lauf der Geschehnisse du dazu gebracht wirst, einen Bauernbengel zu entführen und aufs Feld hinaus zu fliehen. Eher müßte Zosia entführt werden. Wenn ich schon jemand entführen sollte, dann Zosia; normal und regelgerecht wäre Zosias Entführung aus dem ländlichen Herrenhaus gewesen; wenn überhaupt irgendwen entführen, dann Zosia - Zosia, und nicht den dummen, idiotischen Bauernbengel. Und im Dämmerdunkel des Korridors suchte mich die Versuchung heim, Zosia zu entführen, die klare und reine Sehnsucht nach Entführung - Zosia, o Zosia, klärlich zu entführen!
Hei, Zosia entführen! Zosia reif entführen, auf Herrenart
und Adelsmanier, wie schon Hunderte von Entführungen
geschehen waren. Ich mußte mich gegen diesen Gedanken wehren, mir seine Grundlosigkeit
beweisen - und doch, je weiter ich auf den verräterischen Dielen des Fußbodens
vorwärts schlich, um so mehr reizte mich das Normale, lockte die einfache und
natürliche Entführung im Gegensatz zu dieser verwickelten Entführung. Ich stolperte
über ein Loch, ein Loch im Fußboden. Woher das Loch?
Es kam mir bekannt vor. Sei mir gegrüßt! - das war mein Loch, ich hatte es selber
vor Jahren gemacht! Ich hatte ein kleines Beil vom Onkel
zum Namenstag bekommen, mit diesem Beil hatte ich dies Loch gemacht. Die Tante
war angerannt gekommen. Hier hatte sie gestanden, mich gescholten, mir kamen
lose Fragmente der Schelte wie lebendig in den Sinn, die Tonfälle des Gescheltes
- und ich, von unten rrumms, ihr in den Fuß! »Ach, ach!« hatte sie geschrien.
Ihr Schrei war noch hier - ich blieb stehen, als hätte mich die Szene am Fuß
gepackt, die schon nicht mehr da war, und die dennoch da war, hier auf dieser
Stelle. Ich hatte sie in den Fuß gehackt. Ich sah es deutlich im Dunkel, wie
ich zugehackt hatte, ohne zu wissen warum, ungewollt, automatisch, und wie sie
schrie. Sie schrie auf und tat einen Sprung. Meine jetzigen Taten vermischten
und verflochten sich mit den in der Vergangenheit und Vorvergangenheit begangenen,
plötzlich erfaßte mich ein Zittern, die Kinnladen preßten sich zusammen. Um
Gottes willen, ich hätte ihr ja den Fuß abhacken können, wenn ich fester zugehauen
hätte; welches Glück, daß ich nicht genügend Kräfte gehabt hatte - gesegnete
Schwäche! Doch jetzt hatte ich Kraft. Und warum, statt zu dem Bauernbengel zu
gehen, nicht zur Tante ins Schlafzimmer und fest mit einem Beil zuschlagen?
Fort, fort, Kindheit! Kindheit? Aber, du heiliger Gott, der Bauernbengel war
ebenfalls Kindheit; wenn ich zum Bauernbengel ging, so konnte ich auch hingehen
und der Tante eins hacken - das eine war das andere wert -, hacken, hacken!
O Kinderei! - (fer)
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