ndere, Der   Wahrscheinlich ist es nicht die Ausnahme, sondern die Regel, daß der Mensch vernichtet, was er haßt, und das ist gewöhnlich der Rivale auf dem eigenen Territorium. Zwischen Nächsten- und Fremdenhaß existiert ein unaufgeklärter Zusammenhang. Der verabscheute Andere ist ursprünglich wohl immer der Nachbar, und erst, wenn sich größere Gemeinwesen gebildet haben, wird der Fremde jenseits der Grenze zum Feind erklärt.  - H. M. Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main 1993

Andere, Der (2)  Auf derTerrasse, die nicht ganz so verräuchert war wie das Innere dieses tibetischen Hauses, in der Abenddämmerung, in der das noch andauernde Tageslicht scheinbar keine Verbindung mehr zur Sonne hat und das Licht von den Dingen ausgeht; -und ich war noch auf und ging ungewollt einen Schritt weiter als mir erlaubt war:  Da kam der Andere auf mich zu.

Wir begegneten uns langsam, der Andere, als wolle er mir schweigend den Weg versperren, den ich unabsichtlich, aus mir heraus, fortgesetzt hatte. Ich erkannte ihn sogleich; er war fünfzehn Jahre jünger als ich, etwa sechzehn oder zwanzig Jahre alt; schmaler und blonder und trug ganz unbefangen europäische Kleidung, deren sandfarbener Ton durch den Gebrauch, die Sonne oder die damalige Mode verblichen war, und die ihm im übrigen gut stand. Er hatte vielleicht etwas Unausgereiftes in seinem Auftreten; aber ich empfand eine große Zuneigung für diese blonde Jugend, die er von soweit her und aus den Tiefen der Zeit mit sich brachte. Der leiseste nußbraune Schimmer in seinen Augen wurde zu einem zitternden Strahl, jung und golden. Das Erstaunen jedoch, ihn dort anzutreffen, ist mir erst zögernd mit folgenden Worten gekommen:

- Was, dich gibt es immer noch, und du bist hier?

- Du hebst dich ab von dieser Landschaft. Deine Jacke paßt nicht hierher und auch nicht deine Schuhe und dein ungebranntes, blasses Gesicht Ist dir nicht kalt? Du scheinst die große Höhe nicht gewohnt zu sein...

Er stand mir schräg gegenüber, ohne mich anzusehen, ja vielleicht ohne mich zu sehen. Ich stellte Fragen, ohne eine Antwort zu erwarten. Eine Antwort hatte mich sehr viel mehr erstaunt als sein Schweigen. Und er antwortete tatsächlich nicht.

Ich bin ihm dankbar dafür. Sonst hätte ich einen ziemlich ungewöhnlichen Dialog wiedergeben müssen, während mein räsonierender, aufbereiteter Monolog logisch und begründend bleibt. Ich bemerkte jedoch eine außergewöhnliche Durchsichtigkeit an seiner Gestalt. Die von der Nacht beinahe ausgelöschte Landschaft, das gewaltige Herabrollen von Felsbrok-ken und Sturzbächen und die Felswände im Schatten, die von dunklen Gesteinsschichten wie von Knoten umschlungen und gefoltert wurden, der Saft in den Stämmen, all das schien durch ihn hindurch und saugte ihn gleichsam auf. Der Andere wurde zu Rauch, bevor er mir geantwortet hatte. Bevor er jedoch gänzlich verschwand, hatte ich die nicht zu messende Zeit, besser gesagt, den Augenblick, seine ganze Gegenwart auf mich einwirken zu lassen und vor allem ihn wiederzuerkennen: der Andere war ich selbst im Alter von sechzehn bis zwanzig Jahren. -Ein gewundener, schemenhafter Fetzen meiner eigenen Jugend, in-sich-ge-kehrt und verdutzt; ein Fetzen dieses Schleiers aus meinem Leben schwebte also hier in den wirbelnden Schwaden des Wildwassers, inmitten dieser Schluchten, die zehnmal tiefer waren als der Durchbruch der Rhone... an diesem Ort, der für mich der entlegenste Flecken der Erde war, da er den Wendepunkt und die Umkehr der Reise bedeutete; dieses Wiederaufleben der Jugend, diesen andächtigen Blick, den jugendlichen Gesichtsausdruck und den unersehnbaren Reiz aller zu jener Stunde erahnten Hoffnungen, die eine allzu schwere Verwirklichung eine nach der anderen ersticken läßt, indem sie nur einige wenige auswählt und diese dann maßlos vergrößert und auf die Spitze treibt, - das war es also, was ich bis hierhin verfolgt hatte.

Jetzt ist der Andere völlig verschwunden; bis hin zum vollkommenen Dunkel, das keinen Hoffnungsschimmer in den Augen bestehen läßt. Doch ich erinnere mich an das, was ich in den seinen wiedererlebt habe. Erinnerung, wie er selbst. Eine andere Wegstrecke. Einen anderen Anhaltspunkt. Wenn man einem Kind irgendeinen Wesenszug aus seiner frühe-sten Kindheit erzählt, so behält es dies und wird sich später dessen bedienen, um sich zu erinnern, seinerseits zu erzählen und die Fortdauer durch die Wiederholung künstlich zu verlängern. Hier ist ein kurzer Moment der direkten Einwirkung, jenseits der überholten Vergangenheit; etwas ist wiedergekommen. - Victor Segalen, Aufbruch in das Land derWirklichkeit. Frankfurt am Main und Paris 1984  (zuerst 1924)

 

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