ndacht  Wenn man mich frägt, wo denn die Intimste Erkenntiß  jenes inneren Wesens der Welt, jenes Dinges an sich, das ich den Willen zum Leben genannt habe, zu erlangen sei? oder wo jenes Wesen am deutlichsten ins Bewußtsein tritt?, oder wo es die reinste Offenbarung seines Selbst erlangt? - so muß ich hinweisen auf die Wollust im Akt der Kopulation. Das ist es! Das ist das wahre Wesen und der Kern aller Dinge, das Ziel und Zweck alles Daseyns. Daher auch ist es, für die lebenden Wesen, subjective, das Ziel alles ihres Thuns, ihr höchster Gewinn; und ist objective das Welterhaltende, denn die Unorganische Welt hängt an der organischen durch die Erkenntniß. Daher die Andacht zum Lingam und zum Phallus. - Arthur Schopenhauer, nach (enc)

Andacht (2)

- Tetsu

Andacht (3) »Ein schöner Anfang {ür eine Eintrachtsandacht«, dachte Sigmund todunglücklich; er sah voraus, daß es ihm wieder einmal mißlingen werde, die höchste Ekstase zu erreichen. Wenn er sich nur Zeit gelassen hätte, einen ändern Platz zu wählen, statt den nächstbesten Stuhl zu erwischen! Er hätte jetzt zwischen Monisma Hacckel und Drahtleite Diesel sitzen können. Statt dessen hatte er sich blindlings neben Morgana niedergelassen, neben Mor-gana — großer Ford! Ihre schwarzen Augenbrauen, oder vielmehr: ihre Braue, denn sie vereinigten sich über der Nase — großer Ford! Und noch dazu saß Marlene Deterding ihm zur Rechten. Marlenes Brauen waren allerdings nicht zusammengewachsen, aber sie war übermäßig pneumatisch. Monisma und Drahtleite dagegen waren einwandfrei. Vollschlank, blond, nicht zu groß . . . Und jetzt setzte sich der klobige Lümmel, Bosch Kawaguchi, zwischen sie! Als letzte kam Sarojini Engels.

»Verspätet!« rief der Vorsänger der Gruppe ihr verweisend zu. »Daß mir das nicht wieder vorkommt!«

Sarojini entschuldigte sich und glitt auf ihren Platz zwischen Bernard Bokanowsky und Valentine Bakunin. Die Gruppe war jetzt vollzählig, der Eintrachtskreis geschlossen und ohne Fehl. Mann, Weib, Mann, ein endlos wechselnder Ring rings um den Tisch. Zwölf Menschen, bereit, eins zu werden, zu verschmelzen, ihre zwölf Einzeldasein an ein größeres Sein zu verlieren. Der Vorsänger erhob sich, schlug ein T und drehte die synthetische Musik an. Er entfesselte leise, unermüdliche Trommelschläge und ein ganzes Orchester — Aus- und Einbläser und Über- und Unterstreicher —, das schallend die kurze, unentrinnbare Melodie der ersten Eintrachtshymne immer aufs neue zu wiederholen begann. Wieder und wieder — nicht mehr das Trommelfell fing den pochenden Rhythmus auf, sondern das Zviprchfell. Das Drängen und Schmachten dieser immer wiederkehrenden Harmonien suchte nicht das Gemüt heim, sondern die Eingeweide, den Unterleib. Abermals schlug der Vorsänger ein T und setzte sich.

Die Andacht hatte begonnen. Die diesem Zweck geweihten Somatabletten wurden in die Mitte des Tisches gelegt. Der Eintrachtskelch, gefüllt mit Erdbeereiscremesoma, ging von Hand zu Hand, und zwölfmal wurde mit dem Spruch: »Ich trinke auf meine Auflösung« davon getrunken. Dann wurde unter synthetischer Orchesterbegleitung die erste Eintrachtshymne gesungen:

Ford, wir sind zwölf, o mach uns eins
Wie Tropfen im Gemeinschaftsquell;
Laß laufen uns im Strom des Seins
Schnell wie dein 12-PS-Modell!

Sechs inbrünstige Strophen. Der Kelch machte nochmals die Runde. »Ich trinke auf das Größere Sein«, lautete jetzt der Spruch. Aue tranken. Unermüdlich spielte die Musik. Die Trommeln schlugen. Das Aufschreien und Aufeinanderprallen der Harmonien wurde zur Besessenheit in den hinschmelzenden Eingeweiden. Man stimmte die zweite Eintrachtshymne an:

Komm, Größres Sein, du Trost der Massen,
Und schmilz uns Zwölf zu Einem hin;
Wenn unser Einzelsein wir lassen,
Ist es des Größern Seins Beginn.

Abermals sechs Strophen. Unterdessen begann das Soma seine Wirkung zu tun. Die Augen glänzten, die Wangen glühten, das innere Licht der Allgüte offenbarte sich in aller Mienen durch ein glückseliges, einladendes Lächeln. Sogar Sigmund fühlte sich ein wenig hinschmelzen. Als sich Morgana Rothschild ihm strahlend zuwandte, gab er sich die größte Mühe, zurückzustrahlen. Aber diese Augenbraue, diese schwarze Einswerdung, war leider noch immer da und ließ sich nicht wegleugnen, sosehr er sich auch anstrengte. Er war noch nicht genügend hingeschmolzen. Ja, wenn er zwischen Monisma und Drahtleite gesessen hätte . . . Zum drittenmal kreiste der Kelch. »Ich trinke auf Sein Nahen«, rief Morgana Rothschild, bei der diesmal zufällig die Zeremonie begann. Ihre Stimme klang überschwenglich laut. Sie trank und reichte Sigmund den Kelch. »Ich trinke auf Sein Nahen«, wiederholte er mit einem ehrlichen Versuch, das Nahen zu spüren. Doch der Gedanke an die Augenbraue verfolgte ihn, und das Nahen lag für ihn noch in grauenhafter Ferne. Er trank und reichte Marlene Deterding den Kelch. »Es wird wieder ein Mißerfolg«, sagte er sich. »Das weiß ich ganz bestimmt.« Aber er tat sein möglichstes, um zu strahlen. Der Kelch war in der Runde herumgegangen. Der Vorsitzende gab mit erhobener Hand ein Zeichen, man stimmte die dritte Hymne an:

Oh, freuet euch voll Überschwang:
Das Allerhöchste nahet sich.
Schmelzt hin bei dieser Trommein Klang,
Denn ich bin du, und du bist ich!

Von Strophe zu Strophe stieg die Erregung der bebenden Stimmen. Das Gefühl vom Nahen des Allerhöchsten lag wie eine elektrische Spannung in der Luft. Der Vorsänger schaltete die Musik ab; als der letzte Ton der letzten Strophe verklungen war, trat lautlose Stille ein, die elektrisch durchkribbelte Stille verlängerter Erwartung. Der Vorsänger streckte die Hand aus, und plötzlich sprach eine Stimme; eine tiefe, kraftvolle Stimme, melodischer als Menschenmund, glutvoller, beschwingter von Liebe und Sehnsucht und Hingebung, eine wunderbare, geheimnisvolle, überirdische Stimme sprach über ihren Köpfen. Ganz langsam sagte sie: »O Ford, Ford, Ford!«, immer leiser, immer tiefer. Unglaubliche Wärme durchdrang von der Magengrube aus erregend alle Glieder der Hörer, Tränen traten ihnen in die Augen, Herz und Eingeweide schienen sich in ihrem Innern wie von eigenem Leben zu rühren. »Ford!« Sie schmolzen. »Ford! Ford!« Sie vergingen, schwanden hin. Plötzlich, in überraschend verändertem Ton, trompetete die Stimme: »Höret! Höret!« Sie hörten. Nach einer Pause flüsterte es nur noch, flüsterte aber durchdringender als der allerlauteste Schrei: »Fühlt das Nahen des Allerhöchsten!« und immer wieder: »Das Nahen des Allerhöchsten!« Das Flüstern erstarb. Neues Schweigen. Die Erwartung, einen Augenblick lang gelöst, spannte sich abermals, straffer und straffer, fast bis zum Reißen. Und plötzlich war der Augenblick des Reißens da. Mit weit geöffneten Augen und Lippen sprang Morgana Rothschild auf. »Ich fühle es«, rief sie. »Ich fühle das Allerhöchste!« »Es naht!« schrie Sarojini Engels.

»Ja, es naht, ich fühle es!« Monisma Haeckel und Bosch Kawaguchi erhoben sich gleichzeitig.

»Oh, oh, oh!« Drahtleite legte unartikuliert Zeugnis ab. »Es naht!« gellte Bernard Bokanowsky.

Der Vorsänger neigte sich vor und entfesselte mit einem Fingerdruck ein Tollhaus von Zimbeln und Blasinstrumenten, einen Tropenkoller von Tamtams.

»Oh, es naht!« kreischte Marlene Deterding. »Aie!« Es klang, als würde ihr die Kehle durchgeschnitten. Sigmund fühlte, daß es höchste Zeit für ihn sei, etwas zu tun; er sprang auf und brüllte: »Ich fühle es. Es naht!« Es war eine glatte Lüge. Er fühlte nichts, gar nichts, trotz Musik und steigender Erregung. Aber er gab den ändern an Armeschwenken und Gebrüll nichts nach, und als sie zu hopsen und zu stampfen und zu schlittern begannen, hopste und schlitterte er mit.

Rund um den Tisch zogen sie, eine Tanzprozession im Kreise, jedes die Hände auf den Hüften des vor ihm Tanzenden, ringsherum, ringsherum; alle wie aus einer Kehle brüllend, so stampften sie im Rhythmus der Musik, schlugen den Takt auf dem Hinterbackenpaar vor sich, zwölf Paar Hände schlugen im gleichen Takt, von zwölf Paar Backen kam, wie von einem einzigen, klatschender Widerhall. Zwölf-in-Einem, Zwölf-in-Einem. »Ich fühle es, ich fühle es nahen!« Die Musik wurde schneller; hurtiger stampften die Füße, rascher, immer rascher klatschten rhythmisch die Hände. Und auf einmal verkündete ein mächtiger synthetischer Baß die nahende Entsühnung und höchste Erfüllung aller Vergcmeinschaftung, das Kommen des Zwölf-in-Einem, die Fleischwerdung des Größeren Seins. »Rutschiputschi«, sang die Stimme, während die Tamtams ihren fieberwahnsinnigen Zapfenstreich schlugen:

Rutschiputschi, welch ein Fordsspaß,
Mann und Weib Befreiung findet
Durch die Allmacht Seines Worts, das,
Rutschiputschi, euch verbindet.

»Rutschiputschi.« Die Tänzer wiederholten den liturgischen Kehrreim.

Und während des Gesangs verdämmerten die Lichter und wurden zugleich wärmer, strahlender, röter, bis die zwölf endlich im Pupurdunkel eines Embryonendepots tanzten. »Rutschiputschi . . .« In blutroter Mutterleibsfinsternis kreisten sie noch eine Weile, klopften immerzu den unermüdlichen Rhythmus, dann ging ein Schwanken durch den Reigen, er riß, löste sich und sank in paarweisem Zerfall auf die Sofas, die als äußerster Kreis den runden Tisch und seine Stuhlplaneten umgaben. »Rutschiputschi. . .« Zärtlich gurrte und girrte der tiefe Baß. Im rötlichen Dunkel schien es, als senkte sich eine riesige Negertaube begnadend auf die nun bäuchlings oder rücklings hingelagerten Tanzenden herab.

Sie standen auf dem Dach; der Große Henry hatte soeben zwölf gesungen. Die Nacht war still und warm.

»War es nicht wundervoll?« meinte Monisma Haeckel. »Einfach wundervoll?« - Aldous Huxley, Schöne neue Welt. Frankfurt am Main 1971 (zuerst 1932)

 

Gebet Gottesdienst Meditation

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe

Synonyme