mtshandlung   Der Kanal war in gleichmäßigen Abständen gesäumt von kleinen Holzgestellen, beklebt mit den Plakaten der verschiedenen örtlichen Parteien (bald würde wieder eine Wahl stattfinden); hauptsächlich Porträts der Gemeindepolitiker, mit den Slogans, die man immer wieder aufnimmt, gegen den eigenen Willen, und die einem dann taglang nicht aus dem Kopf gehen. Ich trat nebenbei gegen eins der Gestelle. Dieses erwies sich als beweglich; fast wäre es von dem beiläufigen Fußtritt umgestürzt. Ohne mich umzublicken, hob ich es aus der Erde und warf es in den Kanal, wo es sofort versank. Das folgende steckte, an den zugespitzten Latten, fester im Boden, mit Keilen noch zusätzlich verankert. Aber ich war mir schon im voraus gewiß - wie manchmal bei Dosen, die ich öffnen soll -, daß ich es auf Anhieb, mit einem einzigen Ruck, ausreißen und ins Wasser kippen könnte (wie es dann auch geschah). Ich beförderte so alle weiteren Plakatständer da hinein; im Herbst, wenn die Alm, wie üblich, einen Monat lang trocken läge, zur sogenannten »Almabkehr«, würden die Beine dann aus dem Grundschlamm ragen, die entfärbten Papierreste würden sich wellen, und der Kanalreinigungsbagger würde all das Zeug mitsamt den Reifen, den Kleiderbündeln und Fischleichen auf die Müllwagen schaffen. Einmal habe ich jemanden, der mich gut kennt, gefragt, ob er mir einen Mord zutraue, und jetzt erinnerte ich mich an die Antwort: »Einen Mord nicht; Mordlust ja.« War es denn Mordlust? Nein. Bloßer Mutwille oder, wie man sagte, »boshafte Sachbeschädigung«? Nein. Jedenfalls sagte ich im Gehen und Laufen immer wieder laut ein Wort vor mich hin, von dem ich dabei wußte, daß es auch nicht die richtige Antwort gab: »Rache«; mit dem Zusatz: »Es gibt ein Recht auf das Wasser. Euer Verstellen des Wassers ist ein Rechtsbruch.« (Folgendes war mein innerer Ausruf gewesen, beim ersten Blick auf das doch stumme Plakatgesicht: »Ruhe!«)

Vergleichbares habe ich bisher nur einmal angesichts eines Sinnspruchs an einer Kirchenwand getan (wobei es freilich bloß zu einem Durchstreichen des Spruchs mit dem Bleistift, im Vorübergehen, gekommen ist).

Jetzt löste ich mit dem Taschenmesser auch noch die an den Stämmen der Uferweiden befestigten rot-weiß-roten Wanderwegplaketten ab - »Europäischer Fernwanderweg Böhmerwald — Steinernes Meer — Karnische Alpen« - und warf sie den Stellwänden nach. Das gleiche tat ich mit einem Vogelhäuschen, einem Veranstaltungsschaukasten, einem Plakat für einen neueröffneten Frisiersalon, wo die Modellköpfe ein Muster wie von Terroristensuchbildern zeigten. Und das vor einem Rohbau eingepflockte giebelförmige Schild, womit ein Unternehmen »bebaubare Grundstücke« suchte (im Dunkeln phosphoreszierende Schrift), zündete ich mit dem Feuerzeug an und betrachtete, wie es kohlte und dann wirklich brannte, mitsamt seinem Giebel. Niemand beobachtete mich; und wenn, so sollte das etwas vom Zuschauen bei einer namenlosen Amtshandlung haben.  - Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1983)

Amtshandlung (2)  Aus einer teichgroßen grünlichen Lache kamen still und verstohlen kleine, gebückte Wesen gekrochen, sie erschienen, da sie auf zwei Beinen gingen, durchaus humanoid, trugen aber hinten ein zusätzliches Paar gestutzter Gliedmaßen, die nicht so sehr von Wasser als vielmehr einer Brühe trieften, über deren Herkunft ich lieber nicht genauer nachdenken möchte. Die Geschöpfe waren zivilisiert, das bewies die Kleidung, die sogar zweireihig war, mit Knöpfen sowohl vorn als auch auf dem Rücken, wo es dazu noch breite Spangen gab. Die erwähnten zusätzlichen Auswüchse waren so etwas wie kleine Frackschöße. Ich hatte sie für Gliedmaßen gehalten, weil sie, sackartig ausgestopft, schwerfällig jeder Bewegung ihrer Träger folgten, erkannte meinen Irrtum jedoch, als der eine oder andere hineingriff, worauf in seiner Hand eine Flasche blinkte, die sogleich an die Lippen gesetzt wurde. Sie trugen dort also Taschen für Speise und Trank. Sie sammelten die auf der Oberfläche des Tümpels treibenden Wasserpflanzen in kleine Säckchen und nahmen öfters einen kräftigen Zug aus ihren Feldflaschen, bis ein Hochgewachsener ein lautes Schnarren von sich gab. Darauf bildeten sie eine lange Reihe, und auf einmal erschien — ich hatte keine Ahnung, woher — ein Schreibtisch. Wahrscheinlich hatte ihn einer zusammengeklappt auf dem Rücken getragen wie einen Rucksack. Der Hochgewachsene setzte sich davor, und die lange, ordentliche Schlange, in der die Geschöpfe sich angestellt hatten, rückte langsam voran. Vor dem am Schreibtisch Sitzenden (es unterlag für mich keinem Zweifel, daß er hier einem Amtsgeschäft nachging) wies jeder ein weißliches Dreieck vor, etwas wie einen Ausweis, eine Karte ausPapier oder Plastik. Mit weit nach hinten gespreizten Beinen saß der Amtsträger da und wiederholte bei jedem, der vor ihn hin trat, dieselbe Verrichtung: Er sah sich erst die Karte, dann das Gesicht des Überprüften an, schlug in einem Buch oder Heft nach, das nicht groß, aber sehr dick und zudem naß und schmutzig war, und fuhr suchend mit dem Finger die Seiten auf und ab. Zugleich nahm er die Karte des Kontrollierten, legte sie auf den Schreibtisch, drückte einen Stempel darauf und ließ ein kurzes Schnarren hören. Ich wunderte mich die ganze Zeit, wie er das alles auf einmal schaffte — um in seiner Kladde blättern zu können, hätte er eine dritte Hand haben müssen, aber er hatte deutlich sichtbar nur deren zwei. Schließlich entdeckte ich, daß ihm zum Sitze nicht etwa ein Stuhl, sondern einer seiner Stammesbrüder diente, der ihm, unter der Last des Amtsinhabers gebeugt, jedesmal das Verzeichnis oder den Katalog, was immer es sein mochte, unter die Nase hielt. Das ging sogar recht zügig, trotzdem waren mir, da ich in unbequemer Haltung hinter einem Dreckhaufen hockte, am Ende der Kontrolle die Beine eingeschlafen. Endlich wanderte der Tisch mit zusammengeklappten Beinen auf einen Rücken, man bildete eine Kolonne aus Dreierreihen und setzte sich in Marsch, schnurstracks auf den am Horizont blauenden Wald zu.  - Stanislaw Lem, Lokaltermin. Berlin  1985 (zuerst 1982)
 
 

Autorität Verwaltung Amt

 

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