ltstimme  Was die Teufelin angeht, so müßte ich lügen, wenn ich nicht eingestände, daß sie beim ersten Anblick einen seltsamen Reiz auf mich ausübte. Um diesen Reiz zu erhöhen, wüßte ich keinen besseren Vergleich als den mit jenen sehr schönen Frauen, die nahe am Verblühen sind, aber trotzdem nicht weiter altern und deren Schönheit den rührenden Zauber der Ruinen bewahrt. Sie hatte eine ebenso gebieterische wie nachlässige Art, und ihre Augen, mochten sie auch dunkel umrändert sein, waren voll bestrickender Kraft. Was den stärksten Eindruck auf mich machte, war das Geheimnis ihrer Stimme, in der ich die Erinnerung an die lieblichsten tiefen Altstimmen wiederfand und ebenso auch etwas von der Heiserkeit, wie sie Kehlen eigen ist, die dauernd von Alkohol gespült werden.  - Charles Baudelaire, Der Spleen von Paris. In: C. B., Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris. Zürich  1977 (detebe 20387)

Altstimme (2) Ich trete ein.

Ein elend aussehendes Männchen steht in einem Winkel. Seine Hose heruntergelassen. Delectatio morosa. Etwas Weißes spritzt zwischen seinen Fingern hervor und rinnt in ein zwischen seine Schenkel geklemmtes Glasgefäß, in dem ein Goldfisch schwimmt. Nachdem er sein kleines Geschäft erledigt hat, reckt er sich auf, knöpft die Hose zu und sieht mich dabei ernst an. Er benimmt sich wie ein Clown, pflanzt sich breitbeinig vor mir auf und wippt leise hin und her, vor und zurück, als sei ihm schwindlig. Er ist klein und dunkelhaarig, rachitisch, spindeldürr; er scheint wie von einer Flamme verzehrt, die in seinen weitaufgerissenen Augen glüht. Seine Stirn ist niedrig. Die Augenhöhlen sind tief. Die Ringe unter den Augen gehen bis an die Mundfalten heran. Das rechte Bein ist schief; er hat ein steifes Knie und hinkt fürchterlich. Außerdem ist er etwas verwachsen. Seine Hände baumeln an langen Affenarmen.

Und plötzlich fängt er an zu sprechen, ohne jede Hast, langsam, bedächtig. Seine warme, tiefe Altstimme verblüfft mich. Noch nie hatte ich ein so schwingendes Organ gehört, eine Stimme von solcher Dehnung, solcher Resonanz und soviel schwermütiger Sexualität, mit leidenschaftlichen Zuckungen und tiefen Registern voll Glück. Diese Stimme schien Farbe auszustrahlen, so wollüstig und schwellend war sie. Sie packte mich.

Ich empfand sofort eine unwiderstehliche Sympathie für diesen wunderlichen, tragischen Wicht, der sich in seiner schillernden Stimme daherschleppte wie eine Raupe in ihrer Haut. - (mora)

Altstimme (3)   Eine tiefe mächtige Altstimme, wie man sie bisweilen im Theater hört, zieht uns plötzlich den Vorhang vor Möglichkeiten auf, an die wir für gewöhnlich nicht glauben: wir glauben mit einem Male daran, daß es irgendwo in der Welt Frauen mit hohen, heldenhaften, königlichen Seelen geben könne, fähig und bereit zu grandiosen Entgegnungen, Entschließungen und Aufopferungen, fähig und bereit zur Herrschaft über Männer, weil in ihnen das Beste vom Manne, über das Geschlecht hinaus, zum leibhaften Ideal geworden ist. Zwar sollen solche Stimmen nach der Absicht des Theaters gerade nicht diesen Begriff vom Weibe geben: gewöhnlich sollen sie den idealen männlichen Liebhaber, zum Beispiel einen Romeo, darstellen; aber, nach meiner Erfahrung zu urteilen, verrechnet sich dabei das Theater und der Musiker, der von einer solchen Stimme solche Wirkungen erwartet, ganz regelmäßig. Man glaubt nicht an diese Liebhaber: diese Stimmen enthalten immer noch eine Farbe des Mütterlichen und Hausfrauenhaften, und gerade dann am meisten, wenn Liebe in ihrem Klange ist.  - Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882)
 
 

Stimme Gesang

 

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