ltern  Man verbringt die Zeit mit fünf oder sechs Freundinnen, deren Gesellschaft angenehm ist, und mit tausend kleinen Obliegenheiten, die allerhand zu tun geben; was mich ärgert, ist, daß die Tage vergehen, ohne daß man etwas Greifbares vollbringt, und unser armes Leben besteht aus diesen Tagen, und man altert und man stirbt. Ich finde das schlecht eingerichtet, finde das Leben zu kurz. Kaum ist man jung gewesen, steckt man mitten im Alter. Ich wollte, es wären einem hundert Jahre zugesichert und darüber hinaus bliebe es ungewiß. Möchten Sie das nicht auch? Aber, was tun?   - (sev)

Altern (2)

- Charles M. Schulz, We're on your side, Charlie Brown. London 1969 (Hodder Fawcett Coronet Books, zuerst ca. 1957)

Altern (3)  Wieder sind wir allein. All das ist so träge, so schwer, so traurig... Bald werde ich alt sein. Und es wird endlich zu Ende sein. So viele Leute sind in mein Zimmer gekommen. Sie haben allerhand gesagt. Wichtiges haben sie mir nicht gesagt. Sie sind fortgegangen. Sie sind alt, elend und träge geworden, jeder in einem Winkel der Welt.

Gestern um acht Uhr ist Frau Bérenge, die Hausmeisterin, gestorben. Ein starker Sturm erhebt sich in der Nacht. Ganz oben, wo wir sind, zittert das Haus. Sie war eine liebe, nette und treue Freundin. Morgen begräbt man sie in der rue des Saules. Sie war wirklich alt, ganz am Ende des Alters. Vom ersten Tag an, als sie zu husten anfing, sagte ich ihr: «Legen Sie sich nur nicht hin!... Bleiben Sie im Bett sitzen!» Ich mißtraute der Sache. Und dann kam's... Und dann... da kann man nichts machen...

Ich habe nicht immer die Medizin ausgeübt, diese Scheiße. Ich will ihnen schreiben, daß Frau Bérenge gestorben ist, jenen, die mich gekannt haben, die sie gekannt haben. Wo sind sie?...

Ich wünschte, daß der Sturm einen noch viel größeren Krach machte, daß die Dächer einstürzten, daß der Frühling nie wiederkehrte, daß unser Haus verschwände.

Frau Bérenge wußte, daß aller Kummer aus Briefen kommt. Ich weiß nicht mehr, wem ich schreiben soll... All diese Leute sind so fern... Sie haben ihre Seele gewechselt, um besser zu verraten, besser zu vergessen, immer von was anderem zu reden ...

Die alte Frau Bérenge, ihren schielenden Hund wird man mitnehmen, man wird ihn wegbringen...

Aller Kummer der Briefe hat seit bald zwanzig Jahren bei ihr Halt gemacht. Er ist in dem Geruch des frischen Todes, dem unglaublich sauren Geschmack... Er ist aufgebrochen ... Ist da ... Er geht um ... Er kennt uns, wir kennen ihn, jetzt. Er wird nie mehr verschwinden. Man muß das Feuer in der Hausmeisterwohnung löschen. Wem werde ich schreiben? Ich habe niemanden mehr. Kein Wesen, das den freundlichen Geist der Toten sanft aufnehmen, das dann sanfter zu den Dingen reden könn­te ... Mut für sich ganz allein!

Gegen Ende konnte mein alter Hausdrache nichts mehr sagen. Sie erstickte, sie hielt mich an der Hand fest... Der Briefträger ist hereingekommen. Er hat sie sterben sehen. Ein kurzes Schlucken. Nichts weiter. So manche Leute sind früher zu ihr gekommen, um nach mir zu fragen. Sie sind weit weggegangen, sehr weit ins Vergessen, um sich eine Seele zu suchen. Der Briefträger hat seine Mütze abgenommen. Ich konnte meinen ganzen Haß aussprechen. Ich weiß. Ich werde es später tun, wenn sie nicht zurückkehren. Ich will lieber Geschichten erzählen. Ich werde solche erzählen, daß sie eigens, um mich zu töten, aus allen Himmelsrichtungen zurückkehren. Dann wird es aus sein, und ich sehr zufrieden.   - (tod)

Altern (4)  FREITAG, 10. NOVEMBER 1945 Im Gesicht altere ich sehr. Die Haut am Kinn ist allmählich ganz mit kleinen Linien überzogen. Tja, ich bin eben nicht mehr jung.  Ich bin  ein seltsamer alter Mann von originellem Aussehen, originellem Äußeren geworden, der ein ausdrucksvolles Gesicht hat und nach so etwas wie einer vergangenen Mode gekleidet ist; man blickt ihm nach und hält ihn wohl für einen erfolglosen alten Schauspieler, denn man kann sich nicht erinnern, ihn jemals auf einer Bühne gesehen zu haben.  

Paul Léautaud

- (leau)

Altern (5)  Hier also ein paar Worte von der Kunst, sich das Alter in der Jugend zu inokulieren. Es kommt alles bloß darauf an, die Lebenskräfte und Säfte recht bald zu verschwenden, und den Fasern baldmöglichst den Grad von Härte, Steifigkeit und Unbiegsamkeit zu verschaffen, der das Alter charakterisiert.

Die zuverlässigsten Mittel, dies aufs vollkommenste zu erreichen, sind folgende. Es ist oft sehr gut, solche Vorschriften zu wissen, um das Gegenteil desto eher tun zu können. Und so enthalten sie zugleich das Rezept zu einer nicht lange dauernden Jugend. Man braucht sich nur in allen Stücken ganz entgegengesetzt zu betragen.

1. Man suche die Mannbarkeit durch alle physische und moralische Künsteleien baldmöglichst zu entwickeln, und verschwende die Zeugungskräfte so häufig als möglich.

2. Man fange recht frühzeitig an, sich die stärksten Strapazen zuzumuten. Forcierte Kurierritte von mehreren Tagen, anhaltendes Tanzen, durchwachte Nächte und Abkürzung aller Ruhe werden dazu die besten Dienste tun. Man erreicht dadurch eine doppelte Absicht, einmal die Lebenskräfte recht schnell zu erschöpfen, und dann die Fasern recht bald hart und spröde zu machen. - Fürs weibliche Geschlecht insbesondere ist das Tanzen ein sehr gewöhnliches Mittel, sich im Galopp zu konsumieren und zu veraltern. Wie oft sah ich nicht schon durch leidenschaftliches und übermäßiges Tanzen, in wenig Jahren die schönste Jugendblüte vernichtet und die Haut trocken und unrein werden! Sollten diese Betrachtungen nicht der Tanzwut einigen Einhalt tun können? Sollten solche Güter nicht des kleinen Opfers eines augenblicklichen Vergnügens wert sein?

3. Man trinke recht fleißig Wein und Liköre; eins der Hauptmittel, um den Körper auszutrocknen und kraftlos zu machen. Auch der jetzige Mißbrauch des Opiums gehört hierher.

4. Alle Arten von heftigen Leidenschaften werden eben die Wirkung tun und die Kraft der hitzigen Getränke verstärken; vorzüglich die Spielsucht.

5. Hauptsächlich sind Kummer, Sorgen und Furcht außerordentlich geschickt, den Charakter des Alters recht bald herbeizuführen.  - (huf)

Altern (6)   man will bei sich bleiben, will nichts wegschenken, will nichts von der eigenen Substanz entbehren. Will nur noch lesen, schreiben, sich ein wenig bewegen, die restliche Zeit nur noch in Ruhe gelassen werden, in einer Ecke sitzen und aus dem Fenster blicken.

Billardtisch nach van Gogh mit drei weißen Kugeln, sechs erfinderischen Lampen, rundum gekurvte Gesichter. Alzheimer : nestelnde Unruhe, bestimmte Situationen simulieren, man simuliert vor sich selbst, die Äskulapnatter ging vor unseren Füßen, Lektüre Pschyrembel, Michaux. Das verzerrte Gesicht im Spiegel, die Augen die Ohren gesträubt. Kann sein daß, jemand kratzt in der Straße die vereiste Frontscheibe seines Autos frei, ich kann es hinter geschlossenen Fenstern stehend hören, nicht sehen. Kann sein daß, man erbricht sich angesichts dieser Ausweglosigkeit : Endlichkeit. Kann sein daß, man ersehnt Berührungen, scheut davor zurück (»wir werden nicht mehr geliebkost«). Kann sein daß, man läßt alles herankommen, gibt auf, betrachtet die eigenen Hände Altersflecken und Falten, Hände des Vaters. Man will ewig leben, erträgt es kaum mehr, die jungen Kinder zu sehen, die jungen Seidenlocken, geblasenen Augen der jungen Frösche / unsere eigenen Beine - wozu? / wo die doch so viel mehr Leben vor sich, in sich haben als man selbst. Da wird man schon längst undsoweiter, wenn die erwachsen sind undsoweiter.

Je älter man wird, desto jünger ringsum die Welt. Man empfindet Bitterkeit, Scham, Schmerz, Reue, Verzweiflung. Man blickt nur noch ungern in lange Spiegel, was erblickt man da Gräßliches. Da ist eine seltsame Lederfrau, ehemals Kapuzineräffchen. - Friederike Mayröcker, Magische Blätter III. Frankfurt am Main 1991 (es 1646)

Altern (7) Zwei Zwillingsbrüder, Peter und Paul, befinden sich anfangs beide in Ruhe auf der Erde, und ihre Uhren sind genauestens synchronisiert. Nun macht Peter sich auf eine extragalaktische Reise an Bord eines sehr schnellen Raumschiffs, dessen Geschwindigkeit in die Nähe der Lichtgeschwindigkeit kommt. Bei seiner Rückkehr muss er erkennen, dass für ihn an Bord des Raumschiffs nicht dieselbe Zeit verflossen ist wie für seinen auf der Erde zurückgebliebenen Bruder. Die Zwillinge Peter und Paul haben nicht mehr dasselbe Alter, vielmehr ist Paul nun der ältere.

Dieses.Paradoxon ist eigentlich gar keines, denn dle Gleichungen der Relativitätstheorie sagen diese Relativität der Zeit voraus, die im Übrigen auch experimentell bestätigt worden ist, wenn auch nicht mit Menschen, sondern mit instabilen Teilchen (genauer gesagt mit Myonen, einer Art schwerer Elektronen) oder mit Atomuhren an Bord von Überschallflugzeugen und Raumschiffen.

Der französische Philosoph Henri Bergson setzte dieses Paradoxon (vergeblich) als Argument gegen die in seinen Augen falsche Zeitauffassung der Physik ein. Er warf den Physikern vor, die Zeit letztlich nur zu verräumlichen. Die in der Relativitätstheorie vorgenommene Vereinigung von Zeit und Raum zur Raum-Zeit ließ diesen Mangel in seinen Augen nur noch deutlicher zutage treten. Bergson glaubte dagegen, dass Raum und Zeit sich nicht miteinander verschränken ließen und nur ihre Unterscheidung der Realität entspreche.

Zu einem wirklichen Zwillingsparadoxon kommt es, wenn man sagt, dass nicht Peter in seinem Raumschiff sich gegenüber dem auf der Erde zurückgebliebenen Paul bewege, sondern vielmehr Paul gegenüber Peter (das heißt, wenn man das Bezugssystem an das Raumschiff knüpft). Nach der Relativitätstheorie sind diese beiden Betrachtungsweisen äquivalent, so dass man zu dem Schluss gelangt, dass Peter nach Pauls Reise der jüngere ist. Anders gesagt, Peter und Paul sind beide jeweils jünger als der andere. - (thes)

Altern (8)  Die Angehörigen seiner Familie waren langlebig, er hatte Vater und Großvater in einer sowohl erwarteten als auch über alle Erwartung ehrwürdigen Weise alt werden sehen: erst wurden sie schwerhörig, schließlich stocktaub, im Rücken so steif wie in ihrer Art zu denken, und wandelten umher als ehrenwerte und hochgeehrte Denkmäler ungezählter Jahre und Erfahrungen. Bei ihm meldete sich das Alter, wie es schien, auf andere Weise an, und bei sich selber machte er es seiner Großmutter mütterlicherseits, die aus dem fernen Norden von Norwegen stammte, zum Vorwurf. Er  wurde nicht steif und verkalkt, aber die ganze Welt und er mit ihr schien Tag für Tag Gewicht zu verlieren und sich aufzulösen. Dinge und Ideen wechselten die Farbe - so wie der Anstrich bei einem Boot, das in Wind und Wetter draußen gewesen ist, die Farbe verändert. Die Farbtöne auf den Bootsplanken werden mitunter fast noch hübscher als zuvor, es entsteht ein neuer Zusammenklang unter ihnen, aber es ist eben nicht wie es sein soll, und man muß das Boot neu streichen lassen. Es fiel ihm schwer, seine Buchführung in Ordnung zu halten und zu entscheiden, ob Dinge, die sich in seiner Nähe begaben, von vorteilhafter oder unerwünschter, von freudiger oder trauriger Art waren, ja, ob sie in der Buchführung seines Gewissens auf der Soll- oder auf der Habenseite eingetragen werden sollten. Zuweilen kam es ihm vor, als ob er nicht mehr richtig zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden könnte; sein Geist war immer bereit, das Naheliegende fallen zu lassen und in längst vergangene Zeiten zu entrinnen; Kinderspiele und Streiche aus den Bubenjahren hatten mehr Wirklichkeit für ihn als Schiffsfrachten und Wechselkurse. Er begann zu fürchten, seine Umgebung könne den Verfall in ihm entdecken, und befleißigte sich einer peniblen Aufmerksamkeit, wenn er mit seinen Schiffskapitänen und Kontoristen zu verhandeln hatte. Am wenigsten beunruhigt fühlte er sich noch seiner Frau gegenüber; die hatte ihn schließlich genommen und mußte ihn nehmen wie er war. - Tania Blixen, Schicksalsanekdoten. Reinbek bei Hamburg 1988 (zuerst 1958)

Altern (9)  Die Liebe zwischen Auguste und Ernestine, aus der im allgemeinen die Romane bestehen, langweilt ihn dermaßen daß er diese Art Elaborate nicht nur seit langem schon nicht mehr liest, sondern daß ihm die geringste Anspielung  in einem Gespräch oder einer Zeitung auf ein glückliches oder unglückliches Ereignis zwischen zwei Wesen welchen Geschlechts auch immer fast Brechreiz verursacht. In solchen Augenblicken mißt er die Entfernung die ihn heute von einem Seelenzustand trennt den er gut gekannt hat. - (rp)

Altern (10) In Somas Hause lebte dessen Mutter, eine steinalte, schwachsinnige Frau, welche sich die Nase nicht putzte und sich begeiferte und auch sonst einem Kinde glich; denn das hohe Alter lastete auf ihr. Heißt's doch: »Der Leib ist zusammengekrümmt, der Gang ist schwankend, die Zähne sind verschwunden; die Sehkraft verliert sich, die Gestalt schrumpft ein, und der Mund geifert; die Angehörigen hören gar nicht mehr auf die Rede, und die Frau versagt den Gehorsam. Welches Elend! Der eigene Sohn mißachtet einen Mann, den das Alter überwältigt hat. - Der Mund ist zahnlos, unverständlich die Rede, die Kraft geschwunden und die Tätigkeit der Sinne erstorben: das Alter hat den Mann wieder zum Kinde gemacht.«   - Indische Märchen. Hg. und Übs. Johannes Hertel. München 1953 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

Alter

 

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