Dlphütte   Man liest oft von Schinderhütten, ohne recht zu wissen, was dies eigentlich sein soll. Nun, unter einer Schinderhütte stelle ich mir so etwas wie diese Alphütte vor. Föhren standen um sie herum und ein Brunnen nicht weit von ihrer Türe. Auch war das Holz dieser Hütte nicht schwarz, sondern weißlich und faulig, und überall in den Ritzen waren Schwämme, doch kann auch das nur eine nachträgliche Einbildung sein; die Jahre liegen in einer so großen Anzahl zwischen heute und diesem Vorfall, daß Traum und Wirklichkeit unentwirrbar ineinander verwoben sind. An eine unerklärliche Furcht erinnere ich mich jedoch noch bestimmt. Sie befiel mich, als wir uns der Hütte über eine mit Felstrümmern übersäte Alp her näherten, die jenen Sommer nicht benutzt wurde, und in deren Mulde das Gebäude lag. Ich bin überzeugt, daß diese Furcht alle überfiel, Emmenberger vielleicht ausgenommen. Die Gespräche hörten auf, und jeder schwieg. Der Abend, der hereinbrach, bevor wir noch die Hütte erreichten, war um so schauerlicher, als eine, wie es schien, unerträgliche Zeitspanne lang ein seltsames tiefrotes Licht über dieser menschenleeren Welt von Eis und Stein lag; eine tödliche, außerirdische Beleuchtung, die unsere Gesichter und Hände verfärbte, wie sie auf einem Planeten herrschen muß, der sich weiter von der Sonne entfernt bewegt als der unsrige. So waren wir denn wie gehetzt ins Innere der Hütte gedrungen. Dies war leicht; denn die Türe war unverschlossen. Schon im Kiental hatte man uns gesagt, daß man in dieser Hütte übernachten könne. Der Innenraum war erbärmlich und nichts vorhanden als einige Pritschen. Doch bemerkten wir im schwachen Licht oben unter dem Dach Stroh. Eine schwarze, verbogene Leiter führte hinauf, an der noch Mist und Dreck vom vorigen Jahr klebte. Emmenberger holte draußen vom Brunnen Wasser, mit einer seltsamen Hast, als wüßte er, was nun geschehen sollte. Das ist natürlich unmöglich. Dann machten wir auf dem primitiven Herd Feuer. Ein Kessel war vorhanden. Und da ist denn, in dieser merkwürdigen Stimmung von Grauen und Müdigkeit, die uns gefangen hielt, einer von uns lebensgefährlich verunglückt. Ein dicker Luzerner, Sohn eines Wirts, der wie wir Medizin studierte - wieso, wußte eigentlich niemand -, und der auch ein Jahr darauf das Studium aufgab, um doch die Wirtschaft zu übernehmen. Dieser etwas linkische Bursche also fiel, da die Leiter zusammenbrach, die er bestiegen hatte, um unter dem Dach das Stroh zu holen, so unglücklich mit der Kehle auf einen vorspringenden Balken in der Mauer, daß er stöhnend liegenblieb. Der Sturz war heftig. Wir glaubten zuerst, er habe etwas gebrochen, doch fing er nach kurzem an, nach Atem zu ringen. Wir hatten ihn hinaus auf eine Bank getragen, und nun lag er da in diesem fürchterlichen Licht der schon untergegangenen Sonne, das von übereinander geschichteten Wolkenbänken sandigrot niederstrahlte. Der Anblick, den der Verunglückte bot, war beängstigend. Der blutig geschürfte Hals war dick angeschwollen, den Kopf hielt er, während sich der Kehlkopf heftig und ruckweise bewegte, nach hinten. Entsetzt bemerkten wir, daß sein Gesicht immer dunkler wurde, fast schwarz in diesem infernalischen Glühen der Horizonte, und seine weitaufgerissenen Augen glänzten wie zwei weiße, nasse Kiesel in seinem Antlitz. Wir  bemühten uns verzweifelt mit feuchten Umschlägen. Vergeblich. Der Hals schwoll immer mehr nach innen, und er drohte zu ersticken. War der Verunglückte zuerst von einer fieberhaften Unruhe erfüllt gewesen, so fiel er jetzt zusehends in Apathie. Sein Atem ging pfeifend, reden konnte er nicht mehr. So viel wußten wir, daß er sich in äußerster Lebensgefahr befand; wir waren ratlos. Es fehlte uns jede Erfahrung und wohl auch die Kenntnis. Wir wußten zwar, daß es eine Notoperation gab, die Hilfe schaffen konnte, aber keiner wagte, daran zu denken. Nur Emmenberger begriff und zögerte auch nicht, zu handeln. Er untersuchte eingehend den Luzerner, desinfizierte im kochenden Wasser über dem Herd sein Taschenmesser und führte dann einen Schnitt aus, den wir als Coniotomie bezeichnen, der in Notfällen manchmal angewandt werden muß, und bei dem man über dem Kehlkopf, zwischen dem Adamsapfel und dem Ringknorpel, mit quergestelltem Messer einsticht, um Luft zu schaffen. Nicht dieser Eingriff war entsetzlichj Hans, der mußte nun wohl mit dem Taschenmesser gemacht werden; sondern das Grauenhafte war etwas anderes, es spielte sich gleichsam zwischen den beiden in ihren Gesichtern ab. Wohl war der Verunglückte schon fast betäubt vor Atemnot, aber noch waren seine Augen offen, ja weit aufgerissen, und so mußte er noch alles bemerken, was geschah, wenn auch vielleicht wie im Traum; und als Emmenberger diesen Schnitt ausführte, mein Gott, Hans, hatte er die Augen ebenfalls weit aufgerissen, sein Gesicht verzerrte sich; es war plötzlich, als breche aus diesen Augen etwas Teuflisches, eine Art übermäßiger Freude, zu quälen, oder wie man dies sonst nennen soll, daß ich eine menschliche Angst empfand, wenn auch nur für eine Sekunde; denn schon war alles vorbei. Doch glaube ich, das hat niemand außer mir empfunden; denn die ändern wagten nicht hinzusehen. Ich glaube auch, daß dies zum großen Teil Einbildung ist, was ich erlebte, daß die finstere Hütte und das unheimliche Licht an diesem Abend das ihre zu dieser Täuschung beigetragen haben; merkwürdig am Vorfall ist nur, daß später der Luzerner, dem Emmenberger durch die Coniotomie das Leben rettete, niemals mehr mit diesem gesprochen hat, ja, ihm kaum dankte, was ihm von vielen übelgenommen wurde. - Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht. [Mit: Der Richter und sein Henker] Zürich 1978
 

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