llerliebst Sie
hatte von früher Zeit an mit einem unglaublichen Leichtsinne
dahingelebt und jeden Tag und jede Nacht, gleichsam
als wenn es der erste und der letzte wäre, sorglos der Freude
gewidmet. Sie gestand, daß sie nie eine Neigung zu irgendeinem Manne gefühlt,
und pflegte im Scherze zu sagen, es sei so ein eintöniges Geschlecht, daß man
einen von dem andern wenig unterscheiden könne. Sie warf nicht leicht ihre Augen
auf einen, der sich nicht auch um ihre Gunst bemüht hätte, und es war nicht
leicht einer, auf den sie nicht ihre Augen warf. Sie war das gutherzigste
Geschöpf von der Welt, naschte gerne, putzte sich und konnte nicht leben,
ohne spazierenzufahren oder sich sonst eine Veränderung zu machen. Ganz allerliebst
war sie aber, wenn sie ein Glas Wein im Kopfe hatte.
Wer ihr diese Freuden verschaffen konnte, war ihr angenehm, und wenn sie einmal,
welches doch selten geschah, einiges Geld übrig hatte, so vertat sie es auch
wohl mit einem irrenden Ritter, der ihr leidlich gefiel
und dessen starke Seite der Beutel nicht war. In reichlichen Tagen schien ihr
nichts gut genug, und bald darauf nahm sie wieder mit allem vorlieb. Sie pflegte
sich einem freigebigen Geliebten zu Ehren mit Milch, Wein und wohlriechenden
Wassern zu waschen, bald tat ihr der gemeine Brunnen gleiche Dienste. Gegen
Arme war sie sehr freigebig und überhaupt von Herzen mitleidig, nur nicht gegen
die Klagen eines Liebhabers, den sie einmal abgedankt hatte. Was sie von Kleidern,
Bändern, Hauben, Hüten und dergleichen ablegte, warf sie gewöhnlich zum Fenster
heraus. Ihr ganzes Wesen hatte etwas Kindisches und Unschuldiges, das ihr in
den Augen eines jeden einen neuen Reiz gab. Alle Frauen waren ihr aufsässig,
und zwar mit Recht. Auch ging sie mit keiner um und hatte selbst zu ihrer Bedienung
bald einen alten Abenteurer, bald einen jungen
Anfänger. -
Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung
Allerliebst
(2) Als Kind soll er, wie berichtet wurde,
so allerliebst ausgesehen haben, daß die Damen stehenblieben, um ihn anzuschauen.
Er hatte ein rundes Gesicht, blaue Augen, blondes, lockiges Haar. Seine
Bewegungen waren von höchster Anmut, und seine wohlklingende Stimme hatte
etwas, was den Frauen zu Herzen ging. - Nach: Guillaume
Apollinaire, Der göttliche Marquis,
in
(apol)
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