lleinsein  Nach Monaten immer in Gesellschaft oder, wenn allein, dann immer unterwegs: wieder, wie üblich, vergessen, wie nervös, gelinde gesagt, das Alleinsein macht: ein Gefühl der Schwerhörigkeit bei Tag, ein Gefühl der Hellhörigkeit bei Nacht; Gespensterseherei Tag und Nacht — und das Schuldgefühl des Alleinseins: trotz Lesens, Schauens, Arbeitens, Musikhörens eine Anwandlung wie damals in der Studentenzeit: nichts zu erleben, müßig, dumm und faul außerhalb des Laufes der Dinge zu vegetieren. - (han)

Alleinsein (2) Ich finde es gesund, die meiste Zeit allein zu sein. Gesellschaft, selbst mit den Besten, wirkt bald ermüdend und zerstreuend. Ich bin unendlich gerne allein. Noch nie fand ich den Gesellschafter, der so gesellig war wie die Einsamkeit. Wir sind meistens einsamer, wenn wir hinausgehen unter die Menschen, als wenn wir in unserm Zimmer bleiben. Der denkende und arbeitende Mensch ist immer allein, sei er, wo er wolle. Die Einsamkeit wird nicht nach den Meilen der Strecke gemessen, die zwischen uns und unsern Mitmenschen liegen. Wer in einem der dichtbevölkerten Bienenstöcke von Cambridge wirklich eifrig studiert, ist so einsam wie der Derwisch in der Wüste. Der Landmann kann den ganzen Tag in Feld und Wald hackend und grabend beschäftigt sein, ohne sich einsam zu fühlen, weil er beschäftigt ist; wenn er aber abends heimkommt, mag er nicht allein, seinen Gedanken überlassen in seiner Stube sitzen; er muß dahin, wo er ›Leute sieht‹, sich erholt und sich, nach seiner Ansicht, für die Einsamkeit des Tages entschädigt. Dann wundert er sich, wie der Studierende die ganze Nacht und fast den ganzen Tag ohne Langeweile und ohne seine Parteigenossen zu Hause sitzen mag, denn er kann sich nicht klarmachen, daß jener, obgleich im Hause, noch bei der Arbeit auf seinem Felde ist und in seinem Walde Holz hackt wie der Landmann auf dem seinen und zur Abwechslung die gleiche Erholung und Gesellschaft aufsucht wie letzterer, wenn auch vielleicht in konzentrierterer Gestalt. - Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich 1979 (zuerst 1854)

Alleinsein (3)  Ich selber brauche diese Menschen nicht. Nachdem ich allein durch die Stadt gegangen und wiedergekommen bin, weiß ich, daß ich ganz gut auf einer verödeten Erde leben kann, ohne an dem Alleinsein zugrunde zu gehen. Ich werde mit meinen Worten zusammenleben, mit denen, die mir geblieben sind. Einige davon werden vielleicht Wurzel fassen, und sie werden dadurch eine gewisse Macht über mich bekommen, der ich mich fügen muß. Das ist nicht so schlimm; es ist ein Gesetz, dem ich mich gern unterwerfe. Aber diese Leute um mich her werden mich höchstens dabei stören; denn ich werde Macht über sie haben, und wehe mir, wenn ich sie nicht ausüben würde. Sie würden mich umbringen. Nichts macht unfreier als Macht haben, und nur Knechte lieben es, mächtig zu sein. - Hans Erich Nossack, Nekyia. Bericht eines Überlebenden. Frankfurt am Main 1961 (BS 72, zuerst 1947)

Alleinsein (4) Der Weise sei sich selbst genug. Diogenes, der sich selbst Alles in Allem war, hatte, als er sich selbst davon trug, alles Seinige bei sich. Wenn Ein universeller Freund Rom und die ganze übrige Welt zu seyn vermag; so sei man sich selbst dieser Freund, und dann wird man allein zu leben im Stande seyn. Wen wird ein solcher Mann vermissen, wenn es keinen größern Verstand und keinen richtigem Geschmack, als den seinigen, giebt? Dann wird er bloß von sich abhängen, und es ist die höchste Seeligkeit, dem höchsten Wesen zu gleichen. Wer so allein zu leben vermag, wird in nichts dem Thiere, in Vielem dem Weisen und in Allem Gott ähnlich seyn.   - (ora)

Alleinsein (5)   In allem gibt man sich mit Worten zufrieden, sogar was die Freundschaft angeht. Billy gilt als mein Freund. Zwischen unseren Geschmäckern in manchen Dingen liegen Hunderte von Meilen. Vallette? Dumur? Von ihnen trennen mich politische Ansichten, und wenn ich aus dem Mercure wegbin, habe ich keinerlei Verbindung zu ihnen. Einzig Rouveyre läge auf meiner Linie, doch ihn sehe ich kaum, und von Auriant, mit dem ich viele literarische Vorstellungen gemeinsam habe, stoßen mich leider ebenso viele Seiten ab und mißfallen mir - etwa sein Mangel an Takt und Verschwiegenheit. Im Grunde - und das habe ich schon längst entdeckt — ist man allein, selbst in der Liebe. Das hat übrigens gar nichts weiter Schmerzliches. Man gewöhnt sich daran. Man findet Geschmack daran. - (leau)

Alleinsein (6)  Es war einmal ein arm Kind und hart kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum. Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.  - Georg Büchner, Woyzeck

Alleinsein (7)  Wenn man einmal mit jemand zusammengelebt hat, ist es qualvoll, nachher allein zu leben. Die Stille eines nur vom Feuer erhellten Zimmers, in dem unversehens die Uhr zu ticken aufhört, die unruhigen Schatten in einem leeren Haus - nein, es war besser, mit seinem Todfeind zusammenzuleben, als sich dem Grauen des Alleinseins auszuliefern. - (bal)

Alleinsein (8)  Allein zu sein bedeutet, mit sich zu sein, und das heißt stets, zu zweit zu sein.

Andernfalls, ohne diese »innere« Teilung oder Unterscheidung, hätten wir niemals Umgang mit jemand anderem; denn dieser Umgang besteht darin, daß eine fremde Stimme oder ein fremdes Hören an die Stelle des Hörens des Anderen tritt, der in uns ist und das zweite Glied jeden Gedankens bildet. Die grundlegende Relation des Bewußtseins ist wie zwischen zwei Polen — von denen der eine zu mir oder zu dir gehören kann, während der andere notwendig von mir ist. Vielleicht ist es daher so, daß das Denken nach und nach durch die Gesellschaft — im einfachsten Sinne des Wortes — herausgebildet, ausgeprägt wurde. Sicher ist jedenfalls, daß das bewußte Denken, das heißt das ausdrückend-ausgedrückte, sich in Form einer Korrespondenz zwischen Sprechen und Hören, Geben und Empfangen, Tun und Leiden bezeugt. Es findet ein Austausch statt.  - (pval2)

Freiheit Gesellschaft
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