lkoven  Man wußte im ganzen Haus, daß er ein jüdisches Mädchen versteckte. Die Mieter wußten es bestimmt. Im ›judenreinen‹ Teil der Stadt gab es szmalkownicy, Abschöpfer - so wurden sie genannt -, die den letzten Pfennig von den Juden erpreßten, und dann verrieten sie sie an die Nazis. Mein christlicher Beschützer - Andrzej war sein Name - hatte kein Geld. Jeden Augenblick hätte irgend jemand die Gestapo benachrichtigen können und man hätte uns alle erschossen - mich, Andrzej, Stasiek, seinen Sohn, und Maria, seine Frau. Was sage ich? Erschießen war noch die leichteste Strafe. Man hätte uns gefoltert. Alle Mieter hätten für das Verbrechen mit ihrem Leben bezahlt. Ich sagte oft zu ihm: ›Andrzej, mein Lieber, du hast genug getan. Ich darf euch nicht alle ins Verderben ziehen.‹ Aber er sagte: ›Geh nicht fort, geh nicht. Ich kann dich nicht in den sicheren Tod gehen lassen. Vielleicht gibt es doch einen Gott.‹ Ich war in einem Alkoven versteckt, der kein Fenster hatte, und vor die Tür hatten sie einen Schrank gerückt, um den Eingang zu verdecken. Von der Rückseite des Schrankes hatten sie ein Brett herausgenommen, und durch die Öffnung reichten sie mir das Essen und, verzeih, nahmen den Nachttopf entgegen. Wenn ich meine kleine Lampe auslöschte, wurde es dunkel wie im Grab. Er kam zu mir, und beide, sein Sohn und seine Frau, wußten es. Maria litt an einer Frauenkrankheit. Der Sohn war auch krank. Als Kind bekam er die Skrofulöse oder eine Drüsenkrankheit und er brauchte keine Frau. Ich glaube, er hatte auch keinen Bartwuchs. Er hatte eine Leidenschaft - Zeitunglesen. Er las sämtliche Warschauer Zeitungen, auch die Anzeigen. Ob Andrzej mich befriedigte? Ich war nicht auf Befriedigung aus. Ich war zufrieden, wenn es ihm Entspannung brachte. Von zu vielem Lesen waren meine Augen schlecht geworden. Ich litt unter solchen Verstopfungen, daß nur Rizinusöl mir helfen konnte. Ja, ich lag in meinem Grab. Aber wenn man lange genug in einem Grab gelegen hat, gewöhnt man sich daran und will sich nicht mehr davon trennen. Er hatte mir eine Kapsel mit Zyankali gegeben. Er und seine Frau und auch ihr Sohn trugen solche Kapseln bei sich. Wir lebten alle mit dem Tod, und du sollst wissen, daß man sich in den Tod verlieben kann. Wer einmal den Tod geliebt hat, kann nichts anderes mehr lieben. Als die Befreiung kam und man mir sagte, ich könne gehen, wollte ich nicht. Ich klammerte mich an die Schwelle, wie ein Ochse, der zum Schlachthaus geführt werden soll.  -  Isaac Bashevis Singer, Hanka. In: I.B.S., Leidenschaften. Geschichten aus der neuen und der alten Welt. München 1993. (zuerst 1975) 

Alkoven (2)

 - Nicole Claveloux

 

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