Algolagnie   Es war einmal ein Revolutionär. ... In der russischen Revolution 1906 wurde er gefaßt und sollte sofort füsiliert werden. Dem Obersten, der die Exekution kommandieren sollte, fiel er durch sein eigentümliches Gebaren bei dem Abknallen seiner Genossen auf; er ließ ihn zur Beobachtung seines Geisteszustandes abführen. Dort im Gefängnis hat er dann seine in der Tat phänomenalen Erlebnisse schriftlich niedergelegt.

Ihm war schon früh aufgefallen, daß die Menschen sich nur so weit angehen, als sie sich quälen. Ein kleines Mädchen seiner Umgebung beschuldigte einen Jungen, sich an ihr vergangen zu haben, sie log. Und als er bestraft war, vor ihr weinte, sie anklagte, geriet sie in heftige Liebeserregung. Er verfiel einem Liebesverhältnis zu einer jungen vornehmen Person; er merkte, wie ihrer beider Empfindung die Neigung hatte, heftiger zu werden, wenn sie sich reizten. Wie sie sich immer stachelten und davon nicht lassen konnten, so lange wenigstens, wie sie sich liebten. Sie beschlossen, ein Kind zu zeugen, um den Zorn der Umwelt auf sich zu ziehen. Und dann trieb er die brünstige Quälerei soweit, bis ihr nichts weiter übrig blieb, als sich durch Selbstmord von ihm zu befreien.

Er hatte dann von der Frau genug und kam in das revolutionäre Fahrwasser. Was jetzt kommt, ist schwer zu referieren; der Mann schildert flammend, was dann aus ihm wurde und was ihm geschah. Wie ihm immer deutlicher als der Kern alles, auch des Politischen, die Schmerzenslust erschien — Algolagnie sagt der Mediziner. Er stürzt sich unter die Verbrecher, das Lumpenproletariat. Im Begriff, ein Judenpogrom zu verhindern, sieht er sich versucht, eins anzufachen. In der Atmosphäre einer kaukasischen Stadt erkennt er die Neigung der Völkerstämme, sich zu zerreissen; er wirft nach schweren Kämpfen ihnen das Schlagwort hin, sie fassen sich an, er triumphiert, wie nach einem Rausch schläft er ein.

Seine Erkenntnis ist: Lust und Schmerz stehen zueinander wie Licht und Schatten, man kann keine Lust empfinden ohne den Schmerz, und je tiefer die Lust sein soll, um so stärker muß man den Schmerzstachel eindrücken. — Das klingt anders, nicht wahr, als die Frankfurter Ansicht, sprich Schopenhauer: Die Lust ist ein Defizit des Schmerzes; ei, ei, es liegen wohl verschiedene sehr persönliche Tatbestände und Beobachtungen vor; wer weiß, wo das Defizit ist, siehe da, der sechsbändige Philosoph mit seinem Werke: «Der schwache Wille und die verkehrte Vorstellung.» Ich weiß nicht, ob dieser Revolutionär erschossen wurde, aber man hätte ihn damit nur beseitigt, nicht widerlegt. In der Sache steckt Perversität: derselbe Biologe aber, der diese Perversität diagnostiziert, stellt auch fest, daß sie nichts als die krankhafte Steigerung eines normalen Gelüstes ist. - Linke Poot

Gefühle, gemischte

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