Alge   Wenn ihr meint, der Grad der Komplexität und der Grad der Vollkommenheit eines Bauwerks hingen untrennbar miteinander zusammen, so habt ihr zwei ganz verschiedene Dinge durcheinander gebracht. Ihr haltet die Alge für einfacher, folglich primitiver und folglich niedriger als den Adler. Diese Alge aber setzt die Photonen der Sonne in die Verbindungen ihres Körpers ein, sie wandelt den Niederschlag kosmischer Energie direkt in Leben um, und sie wird deshalb weiter leben, bis die Sonne stirbt; sie nährt sich von einem Stern, doch wovon nährt sich der Adler? Von Mäusen, als ihr Parasit; die Mäuse aber nähren sich von den Wurzeln der Pflanzen, also von der Festlandsvariante der ozeanischen Alge, und aus solchen Pyramiden des Parasitismus besteht die gesamte Biosphäre, denn das Pflanzengrün ist ihre Lebensgrundlage, und so findet auf allen Ebenen dieser Hierarchien ein ständiger Austausch zwischen den Gattungen statt, die einander die Waage halten, indem sie sich gegenseitig fressen, denn sie haben die Verbindung zu dem Stern verloren, und nicht an ihm, sondern an sich selbst mästet sich die höhere Komplexität der Organismen; wenn ihr hier also schon unbedingt Perfektion verehren wollt, so gebührt eure Bewunderung der Biosphäre: Der Code hat sie errichtet, um in ihr zu zirkulieren und sich zu verzweigen, sich in all ihre Stockwerke ausbreitend, die als provisorische Gerüste immer komplizierter, aber im Hinblick auf die Energie und ihre Ausnutzung immer primitiver werden.

Ihr glaubt mir nicht? Nun, wenn die Evolution für den Fortschritt des Lebens und nicht den des Codes gesorgt hätte, dann wäre der Adler heute ein photonengetriebener Flieger und nicht ein mechanisch flatternder Segler, und die Lebewesen würden nicht kriechen, nicht schreiten und nicht andere Lebewesen fressen, sondern wären dank der erlangten Unabhängigkeit über die Alge und über den Erdball hinausgegangen; ihr aber erblickt in eurer abgrundtiefen Ignoranz den Fortschritt gerade darin, daß die ursprüngliche Vollkommenheit verschleudert wurde, verloren ging auf dem Weg nach oben - zu steigender Komplexität, nicht zu wachsendem Fortschritt.  - Stanislaw Lem, Also sprach GOLEM. Frankfurt am Main 1986

Alge (2)  In höchstem Maße unbeständig dreht sich die Alge um die anderen ORTE, aber in einiger Entfernung; dabei gehört Ungeduld oder Ungestüm nicht zu ihrem Wesen; schweres, maßvolles Wehen des Windes fängt sie auf; entwurzelt fliegt sie dann weg, ohne Widerstand zu leisten; ihre pflanzliche Fettleibigkeit schützt sie vor dem Groll des Dreiecks; kurz plätschert sie in der Pfütze; kriechend nähert sie sich der Hand, umwickelt sie, ruht sich zwischen Fingern und Handfläche aus; Alge und Gespenst sprechen miteinander wie ferne, aber einander nicht unbekannte Blutsverwandte; und das algenhafte Schmachten verweilt gern in der Nähe des zärtlich zitternden Gespenstes. Die Alge mißt ihre Dimension an der der Hand; niemand aber kann sagen, ob die Hand nur eine einzige Dimension hat. Also hat vielleicht die Alge mannigfaltige und immer wieder unterbrochene Dimensionen; vielleicht ist sie eine »Milchstraße«, vielleicht eine schleimige, unsichtbare Kette von Tiefseegrünzeug. Bisweilen verschlingt sie sich zu einem Knoten, den sie behend wieder auflöst, sie duldet keine Bindung, die ihrem ungefähren Geflatter und Auffliegen Einhalt geböte. Das Dreieck mustert sie nicht ohne Besorgnis und sein Groll mäßigt sich zu trägem Staunen. Die Alge stiftet Frieden, aber glücklich ist sie nicht.   - Giorgio Manganelli, System. In: (irrt)
 

Pflanze

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