Seine einzige Leidenschaft war das Sammeln von Büchern. Seine Bücherei bestand aus dreißigtausend, nach anderen Angaben aus sechzigtausend Bänden; welcher der beiden Angaben man auch Glauben schenkt, es bleibt eine für damalige Zeiten unerhört hohe Ziffer. Tinius war ein Bibliophile im wahrsten Sinne des Wortes und liebte seine Bücher ihres Inhalts wegen. Er las sie alle und schrieb auch selbst eine Menge theologischer Abhandlungen. Für eine derart große Büchersammlung reichten die geringen Einnahmen eines Lehrers und Seelsorgers freilich nicht aus; selbst die geringen Summen, die ihm die Ehefrauen bei seiner zweimaligen Verehelichung ins Haus brachten, erwiesen sich als ungenügend. Tinius ließ sich in Bücherspekulationen ein, kaufte ganze Bibliotheken sowie Nachlässe auf und verkaufte die Duplikate weiter. Er unterhielt Verbindungen mit den Sammlern ganz Europas und hatte auch in Amerika Geschäftsfreunde. Auf diese Weise gelang es ihm, seine riesige Bibliothek zusammenzutragen, aber er geriet trotzdem häufig in schwierige Situationen, denn er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich Büchersammlungen, die zur Versteigerung gelangen sollten, im voraus zu sichern, auch wenn er den Verkaufspreis bis zum festgesetzten Termin nicht auftreiben konnte.
Nun geschah es, daß ein alter Leipziger Kaufmann namens Schmidt am Vormittag des 28.Januar 1812 blutüberströmt in seiner Wohnung aufgefunden wurde. Als der Alte zu sich kam, erzählte er, daß ihn ein etwa vierzigjähriger Fremder mit dem Aussehen eines ländlichen Seelsorgers aufgesucht hatte. Der Mann wollte Obligationen der Stadt Leipzig erstehen, und der Kaufmann legte ihm auch ein Hundert-Taler-Wertpapier vor. - Doch dann verlor er das Bewußtsein und konnte sich an nichts mehr erinnern. Die Untersuchung ergab, daß der Kopf des alten Schmidt Spuren von Wunden aufwies, die durch Schläge mit einem mit großer Kraft geführten schweren Gegenstand verursacht worden waren. Und aus der Schublade seines Schreibtisches fehlten 11 Stück Obligationen der Stadt Leipzig im Wert von 3000 Talern. Die Behörden schickten sogleich Leute aus, die von Bank zu Bank eilten, um die Einlösung der Wertpapiere zu verhindern, aber sie kamen schon zu spät. Ein zirka vierzigjähriger Mann, der aussah wie ein Landpfarrer, hatte bei der einen Bank die Obligationen zum Tageskurs in Goldmünzen eingewechselt. Bald darauf starb der bejahrte Kaufmann an seinen Wunden, und die Untersuchung gelangte, wie man zu sagen pflegt, an einem "toten Punkt" an. Der Täter war und blieb verschwunden.
Ein Jahr verging. Die Leipziger hatten den Fall Schmidt schon vollständig vergessen, als am 8. Februar 1813 die Nachricht von einem neuerlichen Mord die Stadt alarmierte. Die fünfundsiebzigjährige Witwe Kunhardt hatte am Morgen ihr Dienstmädchen einkaufen geschickt, und als das Mädchen znrückgekommen war, hatte sie in der Wohnung ihre Herrin blutüberströmt, mit eingeschlagenem Kopf vorgefunden. Die Greisin konnte nur aussagen, daß ein Fremder zu ihr gekommen war und ihr einen Brief vorgewiesen hatte, in dem ein ihr Unbekannter 1000 Taler von ihr erbat, die er später zurückerstatten wollte. Plötzlich hatte sie der Fremde niedergeschlagen, wie und womit, wußte sie nicht. Mehr war nicht zu erfahren, am dritten Tage starb die Frau. Von ihrem Besitz fehlte nichts; sicherlich war der Täter durch ihre lauten Hilferufe erschreckt worden und geflüchtet. Von neuem begann die Polizei nach dem Täter zu fahnden, doch diesmal nicht blindlings wie im Falle Schmidt. Auf Grund der Aussage des Dienstmädchens näherten sich die Fangarme des Polypen dem Magister Tinius. Das Mädchen gab an, als sie an jenem Morgen in die Wohnung ihrer Dienstgeberin zurückkam, im Treppenhaus einem Manne begegnet zu sein, den sie von früher kannte. Es war der Magister vom Lande, der in der Herberge abzusteigen pflegte, in der sie vorher gedient hatte. Vom Herbergswirt erfuhr man, daß Magister Tinius auch am Tag des Mordes bei ihm Quartier bezogen hatte. Der Magister wurde verhaftet und vor Gericht gestellt.
Was danach geschah, ist vor allem für Kriminalisten interessant. Tinius
leugnete während seiner langen Untersuchungshaft bis zuletzt. Man konnte
keinerlei unmittelbare Beweise erbringen, doch ergaben sich eine Reihe schwerwiegender
Verdachtsmomente. So stellte sich heraus, daß der Magister bereits einen
Tag vor dem Mord im Haus des Opfers gesehen worden war. Am Morgen der Tat hatte
ihn das Mädchen im Treppenhaus erkannt. Der Brief, den man am Tatort fand,
wies seine Handschrift auf. In der Wohnung des Magisters stieß man auf
eine kleine Axt, die gerade in einer Manteltasche Platz haben könnte und
deren spitze Ecke genau in die Kopfwunde des Opfers paßte. Alldem aber
setzten die Kassiber des Angeklagten die Krone auf, die zu dem Zweck geschrieben
wurden, falsche Zeugen für den Prozeß zu werben. Einer der abgegangenen
Briefe gab dem Magister den Gnadenstoß, denn in ihm stand: "Falls sich
die Untersuchung auch auf den Fall Schmidt erstrecken sollte, ist das und das
auszusagen." (Es folgte die Instruktion.) Augenblicklich wurden die Akten
der Affäre Schmidt
hervorgeholt - man führte die Untersuchung nun schon unter der Voraussetzung,
daß Tinius der Mörder sei - doch alles, was man herausbekam, wär,
daß der Magister ein paar Wochen nach dem Mord eine Bibliothek gekauft
und dafur einen Preis von dreihundert Louisdor in bar gezahlt hatte. Tinius
fand für alles eine Ausrede und widerlegte sämtliche Anklagen, die
gegen ihn vorgebracht wurden, aber die belastenden Angaben verdichteten sich
schließlich so sehr, daß er verurteilt wurde. Bis zum Urteilsspruch
der höchsten Instanz dauerte es ein bißchen lange, nämlich volle
zehn Jahre. Inzwischen war die Zweiteilung Sachsens erfolgt. Poserna war
unter die Herrschaft Preußens geraten, die Akten wanderten hin und her,
bis endlich 1820 das Urteil in erster Instanz und 1823 das rechtskräftige
Urteil in zweiter Instanz verkündet wurde. Der Magister wurde in der Mordaffäre
Schmidt für nicht schuldig befunden, wegen des andern Mords jedoch zu zwölf
Jahren Zuchthaus verurteilt. Von der zehnjährigen Untersuchungshaft wurde
nicht ein Tag angerechnet, und der sechzigjährige Magister mußte
zwölf weitere Jahre absitzen. Er verbrachte also volle zweiundzwanzig Jahre
in Zuchthaus! - Nach: Istvan Ráth-Végh,
Die Komödie des Buches. Leipzig 1984 (Kiepenheuer)
Affaire (2) Pnin hatte eine irritierende Art, Morgen
um Morgen mindestens fünf Minuten lang auf dem Treppenabsatz zu stehen, eifrig
seine Kleidung auszubürsten und dabei die Bürste über die Knöpfe klappern zu
lassen. Er hatte eine heimliche, leidenschaftliche Affaire mit Joans Waschmaschine.
Obwohl ihm untersagt worden war, auch nur in ihre Nähe zu kommen, wurde er ein
ums andere Mal bei einem Verstoß ertappt. Unter Hintanstellung allen Anstands
und aller Vorsicht fütterte er sie mit allem, was zufällig zur Hand war, seinem
Taschentuch, Geschirrtüchern, einem Haufen Unterhosen und Hemden, die er aus
seinem Zimmer hinuntergeschmuggelt hatte, nur um des Vergnügens willen, durch
jenes Bullauge zu verfolgen, was sich wie ein endloses Getümmel von Delphinen
mit der Drehkrankheit ausnahm. Nachdem er sich eines Sonntags seiner Einsamkeit
vergewissert hatte, konnte er aus schierer wissenschaftlicher Neugier nicht
widerstehen, der Maschine ein Paar lehm- und chlorophyllverschmierte Leinenschuhe
mit Gummisohlen zu überlassen, damit sie damit spielen konnte; die Schuhe trampelten
mit einem gräßlichen, unrhythmischen Geräusch davon,
als marschiere eine Armee über eine Brücke, und kehrten
ohne Sohlen zurück. - Vladimir Nabokov, Pnin. Reinbek bei Hamburg 2004
(zuerst 1957)