30. März 28.
Gestern nacht habe ich Äther genommen. Was für eine Projektion! Was für eine Größe! Der Äther kommt rasend schnell. Im Herannahen vergrößert er seinen Menschen, und dieser Mensch bin ich, dehnt ihn unermeßlich, läßt ihn in den Raum wachsen und wachsen ohne Geiz und ohne Maß. Der Äther rast näher wie ein Zug, ratternd und ruckartig kletternd: die Stufen der Treppe sind Felsklippen.
So steigt segelnd und gleitend ein Vogel in den Anden stufenweise
durch die Schichten der Atmosphäre höher. Dabei entfernen sich
meine Füße und Beine, als lagerte sich tröpfchenweise meine Erdenschwere
in ihnen ab, und werden am äußersten Ende meines Selbst zu Gummi.
Auf meinem Mund ein eisiger Mund. - (
mich
)
Nichts fehlte, alles war in meinem Traum leuchtend reproduziert,
während meine eigenen Organe bloßgelegt wurden: die nasse, eiskalte
Watte, die gegen den lemurenhaften Kopf des Falters gedrückt
wurde; die nachlassenden Zuckungen seines
Körpers; das angenehme Knacken der Nadel, als sie die harte Schale
des Thorax durchbohrte; das behutsame Einstecken der Nadelspitze
in die unten mit Kork ausgelegte Rinne des Spannbretts; die symmetrische
Anordnung der dicken, stark geäderten Flügel unter den sauber
darübergelegten Pergaminpapierstreifen.- (
nab
)
Äther (2) Im Jahre 1847 sprach man - das ist ja allgemein bekannt - von nichts anderem als vom Äther und seinen erstaunlichen Nutzanwendungen. Damals kam mir der Gedanke, das Interesse des Publikums zu benutzen, um ein Gelegenheitsstück daraus zu machen, das unerhörten Erfolg hatte. »Meine Herrschaften«, sagte ich mit dem Ernst eines Professors an der Sorbonne, »ich habe im Äther eine neue, wirklich wunderbare Eigenschaft entdeckt«.
»Wenn ein Lebewesen diese Flüssigkeit, hochgradig konzentriert, einatmet, wird dessen Körper binnen kurzem so leicht wie ein Ballon.« Nach dieser Einleitung ging ich zum Experiment über. Ich stellte drei Hocker auf eine Holzbank. Mein Sohn stieg auf den mittleren Hocker, ich hieß ihn die Arme ausbreiten, die ich durch zwei auf je einen Hocker aufgesetzte Stäbe in der Luft abstützte. Dann hielt ich dem Knaben einfach ein leeres Fläschchen, das ich sorgfältig entkorkte, unter die Nase, während man in der Kulisse Äther auf eine stark erhitzte Eisenschaufel goß, dessen Dämpfe sich im Saal verbreiteten. Mein Sohn schlief sofort ein, seine Beine wurden leichter und begannen sich vom Hocker abzuheben.
Ich war der Ansicht, daß das Unternehmen geglückt war, zog also den Hocker unter dem Knaben fort, so daß dieser nur noch von den beiden Stäben gestützt wurde.
Dieses seltsame equilibristische Kunststück rief im Publikum bereits großes Staunen hervor. Es wuchs noch, als man sah, daß ich den einen der beiden Stäbe und den Hocker, auf dem er aufgesetzt war, wegnahm; und schließlich erreichte er seinen Höhepunkt, als ich meinen Sohn mit dem kleinen Finger in horizontale Lage brachte, ihn so frei schwebend schlafen ließ und noch, den Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz, die Füße der Bank entfernte, die sich unter dem ungewöhnlichen Aufbau befand, wie es der Stich darstellt.
- Die Memoiren des Zauberers Robert-Houdin. Hg. Alexander
Adrion. Frankfurt am Main 1981 (it 506, zuerst 1858)
Äther (3) »Wir waren zuerst nacheinander in einer Apotheke in der Rue Montmartre, und jeder hat eine kleine Flasche Äther gekauft. Ich wußte nicht, was daraus werden sollte. Wir haben uns ausgezogen. Aber sie haben mich nicht einmal angeguckt. Wir haben uns alle vier auf das Bett gelegt. Als sie den Äther eingeatmet hatten, ist einer aufgestanden und hat mit merkwürdiger Stimme gesagt:
›Ach, da auf dem Schrank sind ja Engel. Wie reizend sie sind. Ich werde sie fangen.‹
Er hat hinauflangen wollen und ist dabei auf den Teppich gefallen. Mir wurde von dem Geruch ganz übel. Ich habe sie gefragt, ob das alles wäre, was sie von mir wollten, und dann habe ich mich wieder angezogen. Aber ich mußte plötzlich lachen, denn auf dem Kopfkissen saß zwischen zwei Köpfen eine Wanze. Ich höre noch, wie der eine wie im Traum sagte:
›Mir krabbelt eine Wanze vor der Nase.‹
›Mir auch‹, seufzte der andere.« - Georges Simenon, Maigret und sein Neffe.
München 1974 (Heyne Simenon-Kriminalromane 43, zuerst 1934)
Äther (4) Wenn ich mich recht entsinne, schilderte Maupassant den
seltsamen Zustand eines sich steigernden Rausches,
eines sehr männlichen Rausches, während dessen eine Reihe der scharfsinnigsten
Überlegungen angestellt wurde. Die Thesen und Antithesen waren jedoch nicht
in Worte und Sätze gefaßt, sondern vertraten sich durch Stimmen, die als eine
Art von brausender Musik wahrgenommen wurden. Es traten jeweils mehrere Stimmenpaare
gegeneinander an, die sich nach der Erschöpfung der verwegensten Möglichkeiten
endlich unter einem starken Lustgefühl miteinander vereinigten. Aus dieser Vereinigung
brachen neue, tiefere Stimmen hervor, um dasselbe Thema in eine dunklere Schicht
hinunterzutreiben, und so setzte sich dieses geheimnisvolle Spiel in einer ungeheuren
Architektonik von Stufungen fort. Mit dem Gehalt an Wahrheit und Gültigkeit
wurden die Stimmen tiefer, und im gleichen Maße wuchs das Gefühl der Lust. Auf
jeder Stufe wurden die Schlüsse wesentlicher und vielsagender und doch zugleich
einfacher. Endlich blieb bei diesem Absturz in den Brunnen der Erkenntnis eine
einzige Stimme zurück, ein dunkles Gemurmel, das sich dem absoluten Punkte,
der Zone der Urworte zu nähern schien. Und als nichts mehr zu denken, nichts
mehr aufzuschließen blieb, schwieg auch sie. Es wurde still; die letzte Lust
und die letzte Erkenntnis schnitten sich in der Bewußtlosigkeit.
- (
ej
)
Äther (5) Das erste Mal, wenn man Kokain schnupft, schläft man ein, und man fühlt etwas wie eine Vereisung der Nase und ein friedliches Hinneigen zu der Idee des Sterbens. Aber wenn man das erste Mal Äther riecht oder trinkt, wird man von einem sanften erotischen Wahnsinn ergriffen, dem die Begierde nach Besitz fremd ist. Man vergeht danach zu umarmen, zu küssen, zu liebkosen, die Rundungen zu erraten, in den weichen lauen Bögen der Brüste einzuschlafen.
Luciano war nicht gleich eingeschlafen, denn bevor der Äther zu wirken begann, hieß man ihn an der Grenzstation aussteigen. Luciano Sangallo erinnerte sich noch dunkel an das wie in einem Delirium gesehene Zollamt; alle diese offenen Reisetaschen gleich der Autopsie unterworfenen Körpern; auf einem ordinären Brett nebeneinandergereiht; die Zollbeamten, der Inspektor, der Paß, das Geldwechseln; und die schöne Polin, umnebelt wie er, an seiner Seite. Er erledigte automatisch all diese bürgerlichen und bürokratischen Obliegenheiten, während in seinem Gehirn ein Strudel gestörter Visionen und unvollendeter Träume kreiste.
Als sie den Zug wieder bestiegen hatten, schliefen sie beide ein; ihr Kopf auf seiner Schulter, die vier Beine auf der gegenüberliegenden Bank (sie trug Strümpfe von violettem Schimmer) und die Hände...
Ach, die Hände, die Hände.
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Pitigrilli, Betrüge mich gut. In: P., Betrüge mich gut. Reinbek bei
Hamburg 1988 (rororo 12179, zuerst 1922)