Adlerjagd    Dem Ritual der Adlerjagd  wird von den Hidatsa,  wie von vielen andere amerikanische Stämmen,  ein außergewöhnlich sakraler Charakter zugeschrieben. Den Hidatsa zufolge wurde den Menschen die Adlerjagd von übernatürlichen Tieren gelehrt, die zuerst die Technik und die Verfahren dafür erfunden haben und von den Mythen ziemlich vage als »Bären« bezeichnet werden.

Die Informanten scheinen zwischen dem kleinen Schwarzbär und dem Vielfraß oder Labradordachs {engl. »wolverine«: Gulo litscus) zu schwanken. Obwohl die Hidatsa-Spezialisten - Wilson, Dens-more, Bowers und Beckwith - das Problem kannten, haben sie ihm keine besondere Bedeutung beigemessen; schließlich handelt es sich um mythische Tiere, deren Identifizierung man für unnötig, wenn nicht für unmöglich halten könnte. Und dennoch hängt von dieser Identifizierung die ganze Interpretation des Rituals ab. In bezug auf die Adlerjagd geben die Bären keinerlei Aufschlüsse; anders verhält es sich mit dem »carcajou« (Labradordachs oder Vielfraß) - ein von den Kanadiern übernommenes indianisches Wort, das soviel bedeutet wie »schlechter Charakter« -, denn er nimmt m der Folklore einen besonderen Platz ein; in der Mythologie der Algonkin des Nordostens ist er ein hinterlistiges Tier, bei den Eskimo der Hudsonbai wie bei den westlichen Athapasken und den Küstenstämmen Alaskas und Britisch-Kolumbiens ist er gehaßt und gefürchtet. Wenn man die Informationen über alle diese Stämme sammelt, kommt man zu derselben Erklärung, die unabhängig davon ein zeitgenössischer Geograph von einem Trapper erhielt: »Der Vielfraß ist das einzige Mitglied der Familie der Wiesel, das nicht in der Falle gefangen werden kann. Es macht ihm Spaß, den Jägern nicht nur die Beute, sondern auch die Fallen zu stehlen. Der Jäger kann ihn nur mit dem Gewehr erlegen.« Nun aber jagen die Hidatsa den Adler, indem sie sich in Gräben verstecken; der Adler wird von einem über dem Versteck angebrachten Köder angelockt, und wenn der Vogel sich setzt, um ihn zu fassen, greift ihn der Jäger mit bloßen Händen. Diese Technik hat also einen paradoxen Charakter: der Mensch ist die Falle, doch um diese Rolle spielen zu können, muß er in einen Graben steigen, d. h. die Stellung des in der Falle gefangenen Tieres einnehmen; er ist zugleich Jäger und Wild. Von allen Tieren ist der Vielfraß das einzige, das dieser widersprüchlichen Situation gewachsen ist: nicht nur fürchtet er die Fallen nicht, die man ihm stellt, sondern er rivalisiert auch noch mit dem Fallensteller, indem er ihm seine Beute und gelegentlich sogar die Fallen selbst wegschnappt.

Wenn dieser Ansatz einer Interpretation richtig ist, folgt daraus, daß die rituelle Bedeutung der Adlerjagd bei den Hidatsa mindestens teilweise mit der Verwendung von Gräben in Zusammenhang steht, d. h. damit, daß der Jäger eine (im wörtlichen und, wie wir gesehen haben, übertragenen Sinn) sehr niedrige Stellung einnimmt, um ein Wild zu fangen, dessen Stellung die höchste ist, sowohl objektiv (denn der Adler fliegt hoch) als auch in mythischer Hinsicht (denn der Adler steht an der Sitze der Hierarchie der Vogel). Die Analyse des Rituals bestätigt in allen Einzelheiten die Hypothese eines Dualismus von himmlischer Beute und chthonischem Jäger, der auf dem Gebiet des Jagdwesens auch die denkbar stärkste Gegenüberstellung von hoch und niedrig evoziert. Die außerordentliche Komplikation der Riten, die der Adlerjagd vorausgehen, sie begleiten und beschließen, ist also das Gegenstück zu der außergewöhnlichen Bedeutung, die die Adlerjagd innerhalb einer mythischen Typologie einnimmt, welche sie zum konkreten Ausdruck eines maximalen Abstandes zwischen dem Jäger und seinem Wild macht.

Gleichzeitig hellen sich gewisse dunkle Stellen des Rituals auf, insbesondere die Tragweite und die Bedeutung der Mythen, die man sich während der Jagdexpeditionen erzählt; sie beziehen sich auf Kulturheroen, die sich in Pfeile verwandeln können und Meister der Bogenjagd sind, und deshalb in doppelter Weise ungeeignet, unter ihrer Ticrgestalt als Wildkatze oder als Waschbär die Rolle des Köders bei der Adlerjagd zu spielen. Tatsächlich betrifft die Jagd mit dem Bogen jenen Raum, der unmittelbar über dem Boden liegt, d. h. den atmosphärischen oder mittleren Himmel: Jäger und Wild sind im Zwischenraum miteinander verbunden, wahrend die Adlerjagd sie trennt, indem sie sie an entgegengesetzte Orte verweist: den Jäger unter die Erde, das Wild in die Nahe des Empyräums.   - Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken. Frankfurt am Main 1991 (zuerst 1962)

Adler Jagd


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