Abstraktion  Viren, das sind die merkwürdigen Gebilde, die eigentlich nur aus dem langen Faden eines Nukleinsäure-Kettenmoleküls bestehen, das aufgeknäuelt in einer Eiweißkapse! als Hülle verpackt ist. Also, anders ausgedrückt, nichts als eine isoliert existierende Erbanlage, ein Gen, das lediglich mit einer schützenden Hülle umgeben ist. Kein Körper! So gesehen sind Viren so etwas wie die äußerste Abstraktion des Lebendigen. Sie sind zu nichts, zu buchstäblich nichts anderem fähig als dazu, sich zu vermehren.  - Hoimar von Ditfurth, Im Anfang war der Wasserstoff. München 1985  (zuerst 1972)

Abstraktion (2)

 

- N. N.

Abstraktion (3)  Ich arbeite seit Jahren bei der Unesco und anderen internationalen Behörden. Trotzdem habe ich mir einen Sinn für Humor und insbesondere eine beachtliche Abstraktionsfähigkeit bewahrt. Wenn mir nämlich ein Typ nicht gefällt, kostet es mich nur den Entschluß, und schon ist er von der Landkarte radiert, und während er redet und redet, bin ich längst in Melville, und der Ärmste glaubt, ich höre ihm zu. Auf die gleiche Art und Weise kann ich, wenn mir ein Mädchen gefällt, sein Kleid abstrahieren, so wie es mir unter die Augen getreten ist, und während es mir sagt, wie kalt es diesen Morgen ist, bewundere ich minutenlang seinen allerliebsten Nabel. Zuweilen ist meine Fertigkeit beinah gesundheitsschädlich.

Vergangenen Montag waren es die Ohren. Kurz vor Dienstbeginn war die Zahl der Ohren, die sich in der Eingangshalle drängten, ganz außerordentlich. In meinem Büro traf ich sechs Ohren an; mittags in der Kantine gab es weit über fünfhundert, in Doppelreihen symmetrisch angeordnet. Es war unterhaltsam zu beobachten, wie sich dann und wann zwei Ohren erhoben, aus der Reihe traten und sich entfernten. Sie erinnerten an Flügel.

Am Dienstag wählte ich etwas, das, wie ich vermeinte, weniger häufig war; die Armbanduhren. Ich täuschte mich, denn zu Mittag konnte ich rund zweihundert Uhren sehen, die über den Tischen vor und zurückflogen, eine Bewegung, die besonders an die Weise denken ließ, in der man ein Beefsteak zerschneidet. Am Mittwoch gab ich (mit einigem Widerstreben) etwas Wesentlicherem den Vorzug und erkor die Knöpfe. Welch ein Schauspiel! Die Luft der Eingangshalle war von Fischschwärmen mit trüben Augen erfüllt, die sich waagerecht fortbewegten, während an den Seiten jedes kleinen horizontalen Geschwaders zwei, drei oder vier Knöpfe wie ein Pendel auf und nieder schwebten. Im Fahrstuhl konnte buchstäblich kein Knopf mehr zu Boden fallen: hunderte von Knöpfen, die sich in dem schrecklichen kristallförmigen Würfel nicht oder so gut wie nicht bewegten. Ich sehe noch (es war Nachmittag) ein Fenster gegen den blauen Himmel vor mir. Acht rote Knöpfe zeichneten eine feine Vertikale, und hie und da bewegten sich ein paar kleine perlmuttfarbene und heimliche Scheiben. Jene Frau mußte sehr schön sein. - Julio Cortázar, Südliche Autobahn. Frankfurt am Main 1998

Abstraktion (4)   in unseren Tagen sind Philosophen aufgestanden, die sich für tiefgründiger halten und die sagen: ,Wic geben zu, daß der Geist seine Fähigkeiten ohne die Vermittlung der Sinne nicht hätte entwickeln können. Doch wenn diese Fähigkeiten einmal entwickelt sind, begreift der Geist auch Dinge, die niemals in den Sinnen gewesen sind, so zum Beispiel den Raum, die Ewigkeit, die Lehrsätze der Mathematik,'

Ich bekenne Ihnen, daß ich von dieser neuen Doktrin gar nichts halte. Die Abstraktion scheint mir nichts als eine Subtraktion zu sein. Um zu abstrahieren, muß man etwas abziehen. Wenn ich in Gedanken von meinem Zimmer alles abziehe, was es enthält, selbst die Luft, so erhalte ich den reinen Raum. Wenn ich von einem Zeitabschnitt Anfang und Ende abziehe, erhalte ich die Ewigkeit. Wenn ich von einem intelligenten Wesen den Körper abziehe, so erhalte ich die Vorstellung eines Engels. Wenn ich in Gedanken von den Linien ihre Breite abziehe, um einzig ihre Länge und die von ihnen umschlossenen ebenen Flächen zu betrachten, so erhalte ich die Elemente des Euklid. Wenn ich dem Menschen ein Auge nehme und seinen Körper vergrößere, erhalte ich die Gestalt eines Zyklopen. In allen Fällen handelt es sich um Bilder, die von unseren Sinnen aufgenommen worden sind. Wenn die neuen Lehrer mir eine einzige Abstraktion bieten, die ich nicht auf die Subtraktion zurückführen kann, erkläre ich mich zu ihrem Schüler. Bis dahin will ich mich an den alten Aristoteles halten. - (sar)

 

Denken Begriff Reduktion

 

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