bsteigen  Ich erläutere: der Mensch wird bewegt von nichtmenschlicher Kraft, von Lust oder Liebe oder dunkler Absicht, die sich in Muskel und Nerv verbirgt, die er nicht wählt noch begreift; die er nicht will noch liebt, die in ihm steckt, die ihn handhabt, besetzt hält und beherrscht; und die wir absteigende Macht oder Kraft nennen wollen.

Absteigen, das möchte ich voraus bemerken, ist ein angenehmer Vorgang - ich würde dabei nicht fürchten, auf Hindernisse, Unzulänglichkeiten, Verweigerungen, Widerstände der Schwerkraft zu stoßen: noch wirst du die bebenden Gehirnnüstern brauchen, um mit der Nase auf den Weg zu stoßen; denn das ganze Universum ist so listig gebaut, daß von allen denkbaren Bewegungen diese allein offen und einladend ist, bestrickend, ja geradezu aufmunternd, natürlich und natürlicherweise beschleunigt mit immer schleunigerer Beschleunigung; daher man denn durch die Luft zischt auf ein hypothetisches Ziel zu, auf ein theologisches oder infernalisches, ein himmelhoch höllentiefes, auf das unsere magere und zerstreute Natur hinstrebt, und, wie ein umgekippter Fächer von Geraden, sich in graphischer Perspektive auf einen einzigen Zentralpunkt sammelt.

Man beachte, wie diese absteigende Veranlagung sich in unserem Körper exemplifiziert, der sich spindelförmig verjüngt gegen die Füße hin wie sich's für ein Grabungsgerät schickt, für unsere Maulwurfsfersen, mit denen wir uns selber das Grab in den freundschaftlichen Lehm graben; zum Bohrer verdünnen und winden wir uns vom Nabel abwärts, mit dem kurzen und selbständigen Pflanzpflock des Glieds und, weiter unten, den Morchelzehen, die die irdene Erde betasten, wo der Trüffel des Teufels wohnt, der dort mit Krallen den Abgrund aufreißt.

Von der Turmspitze, von der Turmfratze deines beinernen Schädels, mein Freund, mein Mitbesitzer der Genitalien, mein Komplize beim Destillieren des Urins und Bruder im Exkrement, Vorausberechner du auch, dem ich mich mühsam angleiche. Schädelvorbild, mein knarrendes und stumpfes Nichts, meine Mitfehlgeburt, gesprächiges Steinkind; von der abgründigen Spitze neige dich, überlasse dich deinem Abgrund. Sei treu deinem Abstieg, homo. Freund.  - Giorgio Manganelli, Niederauffahrt. Nach (man)

Absteigen (2) Anmerkung über die ›verba descendendi‹ Daß man bezüglich des Absteigens verschiedene Arten und Weisen unterscheidet, ist klar und offensichtlich: wie man Sprüche reimt über das Sterben, das Töten, das Lieben. An und für sich scheint absteigen ein schmuckloses Verb, karg und kahl: abgenutzt und stumpf oder wie ein abgeschabtes Gewand. Die Wörterbücher sagen übereinstimmend aus, daß es bedeute ›von einem höher gelegenen Ort sich auf einen weniger hoch gelegenen Ort begeben was beinahe leichtfertig ist. Wer es benützt, um körperliche und tagtägliche Bewegungen zu bezeichnen, stellt sich heute abgetretene Schuhe und eitle Gamaschen auf behördlichen Treppen vor, die aus den Konservenbüchsen der Züge oder Straßenbahnen oder paranoischen Untergeschossen hervorkommen: früher vielleicht fächelte man sich vor, es spreche von herabschwebenden Fesselballons, von fleischigen Wolken in Strumpfhosen.

Nehmen wir aber das Einleitungsverb neigen, das eine Sache anzeigt, die ihren eignen Zusammenbruch anstrebt und liebt, die innerlich auf ihn zuneigt und zustrebt, aber noch zaudert: wie sich's mit einer jungen Weibsperson verhält, die sich anschickt, ihre Klagen in gebildeten Monologen zu erheben, willens, die zarte Kehle aufzureißen, der aber (wie auf schwülstigen neoklassizistischen Stichen) die Sorge um die Kinder noch Fesseln auferlegt, oder Genüßlichkeit der Liebenden, Pedanterien der Sünde, fleischliche Sophismen, Gefühlsduselei wie aus Vorstadtkinos oder das Sakrament des Alkohols. Es neigen sich die einst kriegerischen Kasematten, die heute schütter und machtlos sind; und die baufälligen Mietskasernen, ohne Verputz und mißliebig den soziologischen Untersuchungen; es neigt sich der knotige Eichbaum, dräuend von finstrer Theologie, aber zerfressen von starrsinniger Enttäuschung. Ein Verb also der Zustimmung, der Mitarbeit: man wendet es an auf den, der nicht einen Tod für gut befindet, der ihm nicht eigen, gewählt, angepaßt und mit der Sachkenntnis und technischen Konzentration des erstklassigen Spenglers ausgearbeitet ist; mögen die anderen sich von wildgewordenen Messern umbringen lassen, vonBa-zillenschlägen, von zornigen Blutgerinseln; und in den dunklen Bauch der Erde werfen lassen, die sich entrüstet ob dieser niederen Dienstbarkeit. Mißgestorbene, die's bald wieder heraufschwemmt, die von verschiedentlichen Wiedergeburten stottern, saftloser Teig eines altbackenen, halbgaren und wieder aufgewärmten Universums.

Andere sinken: schönes Verb, aus gutem Mark, aber mehr noch von schönem Behagen, pluvialisch, es setzt Breitengrade von Hintergestellen voraus, Tuniken, Röcke und Laufgestelle; es verlangt in jedem Falle Massigkeit der Körper, aber keine robuste: vielmehr so, wie die wulstigen Leiber der längst entzauberten uralten Drachen, der spiraligen Tau-sendzähnler gewesen sein mußten: betrachte sie, die grünen, mit tödlichem Schwarz Beschuppten, gespickt mit dem höchst vergeblichen, melancholischen Prunk von Schwingen und Flügeln, und über und über bestachelt mit Sporen und Krallen, wie eine hinfällige Tingeltänzerin, zittrig die einst fürchterlichen Kinnladen, betrachte, wie sie sterben an den heißen Aprilmittwochen des Dreißigtausendsten, wie sie sich in der Luft aufweichen und kopfvoraus den schlappen Halsschwanz dem Grab zustrecken, wie das hängende Huhn hinter sich in die Luft kratzen; diese sinken; und es fehlt nicht an einem gewissen Priesterlichen und dennoch höchst Wohlerzogenen in den Augen dieser hinfälligen Ungetüme: feucht, anstandsvoll; sie erinnern uns, über dem Abgrund des Todeskampfes, an verstreute Echolalien der Kindheit.

Die Steine, die Monumente, die Tempel stufen sich ab; auch eine Kirche. In den Kirchen verkörpert sich nicht selten in jenen bäurischen Muscheln bescheidener Ziegelstufen, untergeordneten und niedrigen Dienern - soweit sie nicht das zweideutige irdische Glück der Formenschönheit erreicht haben - nicht selten, also, verkörpert sich in ihnen, wächst mit ihnen, kämpft sich frei und stößt sich schließlich zum Licht durch: eine Manie der Verleugnung und der Flucht und Verweigerung, ein finstrer und vergeblicher Ekel; fromme und entheiligte Körper. Sie decken sich ab gegen die Reliquien; stehen im Widerspruch zu Mesnern und Prioren; und grollend beginnen sie das eigene Ende zu überdenken. So verfielen die wahren Religionen der Antike, so werden auch die heutigen, wahrhaftigsten Religionen vergehen; denn es sind die Ziegel, die sich gegen sie wenden, die sie verleugnen und die vorziehen zu sterben, um sich nicht zu Mitschuldigen der so erleuchteten Lüge der Wahrheit zu machen. Es ist nicht angenehm für eine derartige Kirche, heute ihren eigenen Tod abzuwarten; denn die scharfsinnigen Priester setzen gewisse Vorsichts- und Unterdrückungsmaßnahmen in Gang, wie's ihre Art ist; dieweil der Aufruhr der Ziegel sie zutiefst giftet und beunruhigt. Hier also wird die aufrührerische Kirche ermahnt, sich gewitzt zu verhalten: doppelzüngig auch und unaufrichtig; daß man nicht geradezu Unaufrichtigkeit dort verteilt, wo es sich um die letzten Dinge dreht. Am gehörigen Ort widmet sie sich mit hartnäckigem Eifer ihren Aufgaben als Hostess, als Hehlerin und Marketenderin der Göttlichkeit, wird sie den andächtigen Gästen herzlichste Miene machen; den Ungetreuen wird sie simulierte Vorwürfe ins Gesicht brüllen; sie wird mit verdächtiger Anmut falsches Goldgehängsel spenden und kränkliche Blässe von langgezogenen, präpubertären Kerzen; sie wird das Ohr leihen als eifrige Gewerkschaftlerin menschlicher Nöte, für alle Forderungen und Klagen; sie wird sie für gerechtfertigt und vernünftig befinden; und - was die bürokratische Seite betrifft - wird für pünktliche Weiterleitung sorgen, auf sorglich ausgefüllten, vollständigen, klar leserlichen Vordrucken, nicht ohne eine Fülle geschwätziger und vertraulicher Informationen, die den Eifer des Dienstfertigen beweisen, auf daß man droben sagen möge: ›Das Kirchlein aus dem Sprengel von... ist eifrig und tüchtig›. Um des gewissen Geheimbündlerischen willen, das den höchsten Dingen ihren Geschmack von großer Autorität verleiht, wird sie sich umtun, - wir sprechen noch immer von der Kirche - damit sich am wundertätigen Speltkuchen gewisse Fälle von offensichtlicher und euphorischer Ungerechtigkeit sattessen: was dennoch ein schwieriges Unternehmen ist, weil ja gerade diese Speltkuchen zur höheren Ehre der Obmänner aufbewahrt werden, die sich davon Propaganda und verlängertes Herabkollern versprechen. Aber, schließlich lassen sich Wunder, Gnadenbeweise und Zustimmung, wenn auch von mittelmäßiger Qualität, farblose und abgelegte Dazwischenkünfte des Höheren jederzeit zusammenpfuschen, und die höchst unglücklichen und verlassenen Leute freuen sich darüber und sind baff. Mit dem Beben wollüstiger Statuen, mit den Possen gärender Voluten wird sich die Kirche das Wohlwollen der Drüberstehenden erwerben - wie ja auch die Engel genäschig das Technicolor versuchen - und zugleich die höchst schäbige Verehrung der leichtgläubigen Gläubigen.

Dabei wird sich ein Klima des Vertrauens herstellen, nicht ohne hysterische Tönungen, das die gewitzigsten Prälaten zu täuschen vermag; obwohl, wie man behauptet hat, die Pfaffen seit geraumer Zeit diese Fahnenflüchtigkeit der Ziegel bereits gerochen haben und aus schiefen Augenwinkeln sowohl Fugen wie Verankerung überwachen; und man sagt, daß sie nächtlicherweile mit Schnüren und Hanfseilen die verdächtigen Kirchen unter den Achseln zusammenbinden, unter dem Vorwand von Renovierung und Wiederinstandsetzung, sie in Zwangsjacken von Balken und Rohren legen, um ihnen, ähnlich wie's in den Irrenanstalten der Brauch, die okkulten Gelüste der Auflösung auszutreiben. Und wir wollen jene Mesner und Kirchdiener nicht nennen, die des nachts mit dem beträchtlichen Ballast ihrer Hintem sie wieder zusammenzupressen versuchen; oder die - unter vorgetäuschter Sorglichkeit um Altargerät, Kandelaber und Flitterschmuck, die den Höchsten, diesen Tändlem, gefallen - nächtliche Inspektionen, Stichproben, Durchsuchungen vornehmen: fromme Männer, keusche und sparsame Frauen, plebejische Sakristane, spruchreiche Leichenträger, mit scherzhaftem und urbanem Gehaben durchforschen sie Stück um Stück und am genauesten die Fundamente und Unterkrypten, denn das sind die Scham- und Afterteile: also die schmählichste Sache. Auf diese Weise ist es ihnen, bis heute, gelungen, inmitten dieser hinfälligen Christenheit den Aufruhr der aufsässigen Mauem zu bremsen.

Aber es wird eine böse Nacht kommen, stürmisch, regnerisch und bitter; eine Filzmantelnacht, Großreinemachen für alle Grabsteine des Friedhofs, Nacht der ehelichen Schenkel, barmherzig und träg; eine Nacht, in der man sich gegen die Kruste des Planeten preßt, der uns kreisen läßt. In einer solchen Nacht sollte der schläfrige und hungrige Gott nicht Wein noch Braten von seinen Getreuen heischen; weil sie nicht getreu sind in solchen Nächten. Und dann wird der ehrliche entchristlichte Tempel sich abstufen: zuerst gewaltsam und ächzend, wird wie ein Schlagflüssiger sich auf die Last der mürben Mauern stemmen, und sie abblättern, bersten lassen, auseinanderzwängen mit dem klebrigen Aufbrodeln des halberloschenen Bluts, über dem der Mittelteil noch aufragt wie die Hand eines Ertrinkenden; und wird schließlich zerschmettern und mit Getöse sich entwurzeln; wird zerbröckeln mit geborstenen Mauern, die puterrote Liturgie der Behänge zerreißen und ins fromme Fleisch der greisen Kirchtürme schneiden, und wird nackt sich herabwürdigen in einer Staubwolke hühnerhaften Kalkgeriesels; wird endlich entweiht, und neugeweihter faltiger Dickhäuter, wird todgeweiht, wie einst die Saurier, der Süße des Stillstands entgegenfallen.

Abstürzen aber gilt für die Selbstmörderischen der Wälder, der Gebirge: Tiere, die, ihrer eigenen Glieder überdrüssig, im Streit liegen mit der Unbill ihrer labyrinthischen Gekröse, Liebhaber mit tyrannischem Riesengenital; sie rasen auf die Gipfel der senkrechtesten Berge, verbiestert vom geilen Glied, Schößling runzligen Fleisches, klebrigen Zungen des Ameisenbärs; von gurgelnden Scheiden, Spalten in den Flechten der Scham, mundus, Höllenmünder der Haine; sie springen in die Luft, gehorsamst ihrer Berufung, gespannt auf den Orgasmus des so süßen Zerschmettems, herabkommende Glieder, niederfahrend.

Niederfahren ist ein Verb, das mehr mit dem Bürgerlichen zu tun hat, mit dem Mechanischen; es beschreibt Leuchtspuren von blitzschnellen Gliedern in trockener Luft; oder wütendes Schnüffeln von Flugzeugen, aus denen der Tod knattert. Zänkisches Weib, getäuschtes Weib, enttäuschtes Weib; Enttäuschung schwenkt Riesenrad wehender Röcke zum Angriff; sprengt sich auf zur Chrysantheme: fältelt sich auf dem Bürgersteig, entfältelt sich, zerfällt. Großer Flug, treffliches Unterfangen, das euch mit einer Würde zeichnet, die wir vergeblich an uns selber suchen. Gewichtige Erzengel, aus euren falben Gliedern schnellt ihr eine blutfarbne Zunge des ›Nein‹ ab gegen unsere schmachvolle Mühe, das ehrlose Knäuel zu entwirren. Vor euch ducken wir uns in die Bildunterschriften der illustrierten Wochenblätter; euer Sturmwind, ihr eiligen Körper, zerrauft uns die Schöpfe, prangert uns an.
- Giorgio Manganelli, Niederauffahrt. Berlin 1987 (Wagenbach Quarthefte 20/21, zuerst 1964)

Absteigen (3) Der Umstand, daß der Traum nicht jede Nacht wiederkehrte, gewährte mir einen Schimmer von Hoffnung, der sich alsbald in Schrecken verwandelte. Der Traum war mehr oder weniger der gleiche. Der Anfang kündigte das gefürchtete Ende an. Ein Geländer und eine eiserne Wendeltreppe, die nach unten führte, und dann ein Keller oder ein System von Kellern, die sich abwärts in anderen, fast senkrechten rohen Treppen fortsetzten, in Schmieden. Schlosserwerkstätten. Verliesen und Sümpfen. Ganz unten, in ihrer ersehnten Vertiefung, die Steine, die gleichzeitig Behemoth oder Leviathan waren, die Tiere, die in der Schrift bedeuten, daß der Herr irrational ist. - Jorge Luis Borges, Blaue Tiger. In: Blaue Tiger und andere Geschichten. München 1988 (zuerst 1977)

Absteigen (4) Mutter Erde wandte sich um und blickte ihren Enkel prüfend an.

«Hier müssen wir hinunter», sagte sie. Der Rauch quoll wolkig aus der Dunkelheit. Prometheus fühlte zum ersten Mal jenes Flackern des Herzens, das Angst heißt, allein er nickte tapfer.

«So komm!» sprach Mutter Erde zum dritten Mal und ~ verschwand im Rauch. Prometheus folgte ihr zögernd. Er hatte gefürchtet, der Rauch werde ihm den Atem nehmen, doch als er die ersten Schritte getan hatte, weitete sich der Spalt zu einem Stollen, der schräg in die Tiefe führte, und der Rauch verlor sich. Prometheus sah wieder Mutter Erde vor sich den Stollen hinabgehen, doch nun schien sie selbst ein Gebilde aus Dunst zu sein. Sie wehte vor ihm wie ein Nebel; das Licht wurde glasig und glitt ins Dämmern, und da hörte Prometheus ein seltsames Geräusch. Es war ein dumpfes Ächzen, als stöhne im Innern des Erdballs ein Berg oder seufze ein Wald, und mit jedem Schritt in den sich immer mehr verengenden Stollen hinein gesellten sich neue Schreckenslaute hinzu. Ein Röcheln kam auf, und nun ein Gurgeln, und nun auch Brüllen und Wimmern und schließlich Keuchen und Kreischen und Röhren und Blöken und Bläffen und Kläffen und Heulen, aber alles dies wie aus Kehlen von Eis oder Horn; ein rasselndes Fauchen erscholl, als ob riesige Blasbälge sich dehnten und zusammenzogen, und schließlich schwoll der Chor so ungeheuer zusammen, daß er das Ohr des jungen Titanen wie mit Fäusten schlug. Auch wurde der Stollen immer niedriger und enger und die Dämmerung immer dichter; Mutter Erde war kaum noch zu sehen, und als Prometheus ihr in seiner Angst zurief, sie möge doch warten, nahm er entsetzt wahr, daß seine Lippen sich zwar bewegten, seine Stimme jedoch nicht einmal von ihm mehr zu hören war. Das Geheul war nun so heftig, daß der Boden des Stollens zu beben begann.

«Mutter Erde!» schrie Prometheus, aber Mutter Erde entschwand in die Dunkelheit. Prometheus war allein. Seine Angst wurde Grauen. «Mutter Erde», schrie er verzweifelt und hörte sein Wort nicht, «hilf mir, Mutter Erde, ich fürchte mich!»

Aus dem schauerlichen Lärm kam keine Antwort. Da wollte Prometheus fliehen, doch als er sich umblickte, sah er in eine solche Finsternis, daß er zurückprallte. - Franz Fühmann, Prometheus. Die Titanenschlacht. In: F. F., Marsyas. Mythos und Traum. Leipzig 1993 (Reclam 1449, zuerst 1974 ff.)

Absteigen (5)

Absteigen (6) Zu Beginn: über die verschiedenen Arten des Absteigens. Manch einer stürzt in senkrechter Linie: zischt und schlägt ein wie ein Meteorit; sogar noch direkter, denn dort, wo er herkommt und hin will, gibt es keine Krümmung des Raums; sondern die Gerade ist gerade. Dieser ist ein Mensch, der, ohne einen Zweifel an seinem unterweltlichen Los, sich dieses vor Augen hält; er geht mit ihm um, ohne sich vor seinen schwefligen Umrissen zu fürchten; betrachtet es, versunken, wie einen Abgrund der Düsternis und gelben Fackellichts: blickt hinein und zuckt mit dem flinken Nacken, wie die schwindelfreie Schlange mit ihrer Zunge. Einäugige, einfarbige Seele, Sprachkundige der einsprachigen Paranoia; Nacht-leuchterin; blitzender Faustkeil, Pfeilspitze aus Saurierelfenbein geschnitzt, plebejische Wurfmaschine, bockiger Nacken des Widders, Feuerspur des Mikrometeors, der die Erde nicht berühren wird, Entzücken der Knäblein, Sterndeutzeichen der Ammen, Nagelschürfer über das Himmelsglas. Andere sinken spiralig: knicksend vor dem Schicksal, werbend um Wiedergeburt; Geduld der Agonie, verschobenes Todesgelüst, bedachtsame Wollust des Selbstmords, bewußt hinausgezögerter Hadesdurst; Bedachtsamkeit der Bewegungen, Vornehmheit im Todeskampf, rhythmischer Sinn im Absturz; Bewegung geeignet für Lurche, für Scheinfüßler, Kralle des einziehbaren Kopulationsfußes; mit dem Schwänze sich lüpfend, in der Schwebe gehalten nicht durch Flügel sondern durch die Eleganz unbewegter Ruderschwinge, genau nach der graphischen Entwicklungstafel: Fledermaus bis Schwalbe; still die Flügel, schwebend der Schwanz, fallschirmige, knorpelhäutige Flachkörbe; im Geist verwahrt er den Fahrplan, genießt ihn als Amateur, kostet Luftlöcher, abschüssige Strudel; gleitet; wird weibisch; sieh, wie er schwänzelt; seinen Abstieg abzirkelt, pausiert, dem dann vollkommenes, abschließendes Schweigen folgt. Andre fluktuieren; unregelmäßig, umherirrend, nicht abgeneigt den schuldhaften Genüssen der Annäherung; unberechenbar auch für sich selbst; nun hält er sich in der Schwebe auf auseinanderstrebenden Fingern, auf parallelen Luftkuppen, wie Blatt oder Folie in windstiller Luft; es genügt ein Hundesatz, Katzenpiß, Frauenhüfte - und es stürzt der flüchtige Zögerer. Doch wie immer sie seien, die Tempi, die Skandierungen, die stürzenden Zuckungen der Angst, das genüßliche Kreiseln über gespannten und blutigen Membranen; oder das besinnliche Schweigen, die plötzliche Schwatzwut, die glühende Laune, die ihn treibt, von dieser und jeder anderen Linie abzuweichen, immer wird jener auf sein eigenes Ende zustreben; daran denken, daran arbeiten; die Hand, die er schützend gegen die Sonne erhoben, enthüllt eine Dichte von einstimmigen Richtungspfeilen; die Träume flößen ihm Einbahnstreben nach dem Abgrund ein; im Bodensatz jeden Glases gähnt die runde Falltür des Abstiegs. Ihm sei Ehre: dem geringfügigsten, dem leichtsinnigsten, dem tagediebischsten aller Selbstmörder; am Grunde angelangt, wird er der heiterste und unwahrscheinlichste aller Erzähler sein. Ein Balladensänger; ein Zärtlicher; ein Lügner.   - Giorgio Manganelli, Niederauffahrt. Berlin 1987 (zuerst 1964)

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