Abendmahlsgedanken  Mit Ausnahme von Morse nahmen alle Besucher das Abendmahl. Der Kirchenälteste, dessen Platz er beinahe okkupiert hätte, trieb sie unauffällig, aber energisch in Richtung Chor und empfing dann - offenbar war das eine geheiligte Tradition - als letzter selbst das Sakrament. Josephs war Kirchenältester gewesen, Josephs mußte am Abend seines Todes als letzter am Gitter zum Chor gekniet haben. Und Josephs hatte nach Aussage des Pathologen sehr merkwürdige Dinge im Magen gehabt. Konnte es sein, daß Josephs am Altar vergiftet worden war? Ein Priester mit dem Kelch in der Hand, soviel war Morse inzwischen klargeworden, konnte großes Unheil anrichten, wenn er es darauf anlegte; denn wenn er fertig war, konnte er alle Beweise vernichten, ohne daß ihnjemand daran hinderte. Es gehörte einfach zum Ritual. Kelch ausspülen, abwischen, bis zum nächsten Gebrauch in den Schrank stellen. Unter den Augen so vieler Statisten war das natürlich ein etwas heikles Unterfangen. Doch an dem Abend, an dernjosephs ermordet worden war, hatten sie das Stück bestimmt in kleinerer Besetzung gespielt. Aber halt, auch diese Sache hatte einen Haken. Es schien, daß der Priester selbst den Kelch bis zur Neige leeren mußte, und zwar vor der ganzen Gemeinde. Konnte er nicht einfach so tun, als tränke er, nur um das Zeug später wegzukippen? Vielleicht war ja auch der Kelch leer gewesen.

Der Möglichkeiten gab es viele, und Morses Phantasie schwang sich in Kirchturmhöhen auf, als er aus der kühlen Kirche auf den sonnigen Cornmarket trat.

Als Morse am Montag morgen mit klarem Kopf aufwachte, stellte er einigermaßen erleichtert fest, daß ihm wieder das liebliche Antlitz der Vernunft lächelte. Er beschloß, sich erst einmal in aller Ruhe mit dem Problem zu befassen, statt die Lösung vorwegzunehmen. Im Grunde gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatte Lawson diesen Josephs umgebracht und dann, von Reue geplagt, Selbstmord begangen - eine verständliche Reaktion. Oder ein Unbekannter hatte Josephs ermordet und dann, um das Maß vollzumachen, auch noch Lawson auf seine Liste gesetzt. Wahrscheinlicher war ersteres, besonders falls Lawson sich von seinem Kirchenältesten auf irgendeine Weise bedroht fühlte, falls der Dolch in Josephs' Rücken Lawson gehört hatte und falls Lawson in den Wochen vor Josephs' Tod wie auch in den Wochen danach Kummer oder Sorgen hatte erkennen lassen. - Colin Dexter, Eine Messe für all die Toten. Reinbek bei Hamburg 1986

Abendmahl Gedanke

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