bendgesellschaft   Tito Arnaudi: «Wer ist dieser gehörnte Rekonvaleszent dort?»
Pietro Nocera: «Er ist ein Antiquar. Dieser und die andern beiden mit den Gesichtern unheilbarer Sentimentaliker sind drei Exliebhaber der Hausherrin. Sie werden die Mumiengalerie genannt, da die vulkanische Geliebte sie für die Liebe buchstäblich unverwendbar gemacht hat. Es wird gesagt, daß die Dame sich bei Gelegenheit einmal geäußert hat: ‹Was liegt mir daran, ob ein Mann, nachdem er mir gedient hat, nicht mehr anderen Frauen dient?›»
Tito Arnaudi: «Unsinn. Du glaubst wirklich, daß die Ausschweifung zu...»
Chirurg: «Und warum nicht? Seht die Schildkröte an. Sie lebt hundert Jahre, aber nur einmal im Jahr vollzieht sie den Liebesakt.»
Maler: «Ich beneide die Schildkröte nicht. Für mich gibt es nur eine Sache, die schlimmer ist als Ausschweifung.»
Chirurg: «Und das ist?»
Maler: «Die Abstinenz
Der Mann, der immer schläft, aufwachend: «Ich habe gehört, daß von mir gesprochen wird: Ihr habt gesagt, ich sei ein Hahnrei. Hahnrei, Dirne... Worte! Es ist alles eine Frage von Worte. Der Hahnrei ist lächerlich, weil das Wort existiert, das ihn so bezeichnet. Auch die hintergangene Frau würde lächerlich sein, wenn es ein Wort für sie gäbe wie Hahnrei. Die untreue Frau ist eine Dirne. Der untreue Mann ist nur ein untreuer Mann, weil noch kein Wort für die männliche Dirne geprägt worden ist. Im übrigen, was geht's mich an? Ich verbringe meine Zeit zwischen Schlaf und Traum: Habe ich Morphium in den Adern, träume ich; wenn ich keins habe, schlafe ich.»
Und er schlief wieder ein.
Tito Arnaudi: «Warum schläft er immer ?»
Chirurg: «Morphium.» - Pitigrilli, Kokain. Reinbek bei Hamburg 1988 (rororo 12225, zuerst 1922)

Abendgesellschaft (2) Nach Mitternacht zu Vollmoeller am Pariser Platz, um die Baker zu sehen. Er hatte wieder eine sonderbare Gesellschaft beisammen, wo niemand wußte, wer der andre war, und aus der nur seine sehr reizende Geliebte, Fräulein Landshoff (wieder in Männerkleidern), hervorragte. Eine Deklassierten-Atmosphäre. Er ist oder fühlt sich als ein deklassierter Dichter und liebt um sich Deklassierte, Frauen in allen Stadien der Nacktheit, deren Namen man nicht versteht und von denen man nicht weiß, ob es ›Freundinnen‹, Nutten oder Damen sind; jüdische junge Männer, die Verleger oder Ballettmeister sein können, Schauspielerinnen, die jemand eben ›entdeckt‹ hat; dazwischen heute Pallenberg, Luli Meiern, Goertz, Meiern-Hohenberg, Charell. Das Grammophon schnarrte ununterbrochen alle Schlager, die Baker saß auf dem Diwan und aß, statt zu tanzen, eine Bockwurst nach der andren (›hot dogs‹), man erwartete die Fürstin Lichnowsky, Max Reinhardt, Harden, die aber nicht erschienen. So gings bis drei, als ich mich empfahl.  - Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918 bis 1937. Hg. Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt am Main 1982 (it 659)

Abendgesellschaft (3) Die unglückliche Mutter fiel auf die Knie und sprach: »O mein Gott, verzeih ihm seine Lästerungen!"

In diesem Augenblick sprang polternd die Tür auf, und es erschien ein hageres, von Dolchstößen entstelltes Gespenst, das dennoch eine entsetzliche Ähnlichkeit mit Bianca bewahrte.

Die Mutter und die Schwester Landolfos begannen inständig zu beten, und Gott erwies ihnen die Gnade, das ganze Schauspiel ertragen zu können, ohne vor Schaudern zu sterben.

Das Gespenst trat mit langsamen Schritten näher und ließ sich am Tische nieder, als wollte es zu Abend essen. Mit einem Mut, den einzig der böse Geist ihm eingeben konnte, wagte es Landolfo, ihm eine Schüssel zu reichen. Das Gespenst öffnete einen Mund, der so groß war, daß der Kopf sich zu teilen schien, und daraus schoß eine rosa Flamme hervor. Dann streckte es eine ganz feurige Hand aus, nahm ein Stück, verschlang es, und man hörte es unter den Tisch fallen. Auf diese Weise schluckte es den ganzen Inhalt der Schüssel hinunter, und alle Stücke fielen unter den Tisch. Als die Schüssel leer war, heftete die Erscheinung die entsetzlichen Augen auf Landolfo und sprach: „Landolfo, wenn ich hier zu Abend esse, werde ich hier auch schlafen. Auf, leg dich ins Bett!" - (sar)

Abendgesellschaft (4)  Nora musterte sie alle nacheinander mit eisigem Blick.

Im Grunde war es ein tristes Abendessen, und keiner gab sich natürlich, denn allen war die Anwesenheit des Kommissars bewußt.

»Ich wette, eines Tages wirst du einen Film daraus machen, den unser guter Freund Carus produzieren wird.«

»Sei still, bitte.«

»Verzeih. Ich wußte nicht. . .«

Noch schlimmer war es, wenn alle schwiegen. In Wirklichkeit gab es keine Freundschaft zwischen ihnen. Jeder war aus egoistischen Gründen hier.

Hingen sie nicht alle von Carus ab? Als erste Nora, die ihm Geld abluchste, um davon Nachtlokale zu kaufen. Es war nicht sicher, ob er sie eines Tages heiraten würde, und sie baute darum lieber rechtzeitig vor.

Ahnte er es? Oder glaubte er, sie liebe ihn um seiner selbst willen? Das war unwahrscheinlich. Er war Realist.

Er brauchte eine Gefährtin, und im Augenblick war sie dafür noch ganz gut geeignet. Es mißfiel ihm gewiß auch nicht, daß sie eine so auffallende Erscheinung war und daß sie überall, wo sie sich zeigten, die Aufmerksamkeit auf sich zogen.

»Das ist Carus mit seiner Freundin ... Nora .. . Eine ulkige Nummer.«

Warum nicht? Er war trotzdem Sophies Liebhaber geworden, aus der er einen Star machen wollte. Das ließ vermuten, daß er Nora eines Tages den Laufpaß geben würde. Er hatte andere vor ihr gehabt und würde andere nach ihr haben.

Dramin ging mit unfertigen Filmmanuskripten umher, die Carus verfilmen sollte. Vorausgesetzt, daß er an sein Talent glaubte.

Francis fand sich in der gleichen Lage. Nur daß er weniger bescheiden, weniger geduldig war, sich oft in einer aggressiven Haltung gefiel, vor allem, wenn er ein paar Schnäpse getrunken hatte.

Maki wälzte einsam einen Gedanken. Seine Skulpturen verkauften sich noch nicht. Während er darauf wartete, daß die Kunsthändler sich dafür interessierten, haute er für Carus oder sonst jemand gute oder schlechte Dekorationen hin und war froh, daß er dann sein Essen nicht selber zu bezahlen brauchte, aß dann für zwei und bestellte sich die teuersten Gerichte.

Der Fotograf. Aus seiner Physiognomie wurde Maigret am wenigsten schlau. Auf den ersten Blick wirkte er nichtssagend. Er spielte die Rolle des Witzbolds. Seine scheinbare Arglosigkeit erlaubte ihm, ins Fettnäpfchen zu treten, bisweilen eine unangenehme Wahrheit zu äußern, die man einem anderen übelgenommen hätte. Selbst sein Beruf machte ihn nicht bedeutend. Man lachte über ihn und seine ewig schwangeren Frauen. - Georges Simenon, Maigret und der Dieb. München 1980 (Heyne Simenon-Kriminalromane 107, zuerst 1967)

Abendgesellschaft (5)  Monika Plessner, die Frau Helmuth Plessners, beschreibt ein Abendessen im Hause Adorno 1952 (FAZ, 18. Mai 1991). Beisammen sind das Ehepaar Adorno, das Ehepaar Suhrkamp, das Ehepaar Plessner, und später kommt Gershom Scholem dazu. Die Autorin betont, sie habe sich ganz still verhalten und zugehört. Bleibt sie deswegen kalt? Nein. Beide Adornos findet sie gleich sympathisch. Was sie dann von Adorno schildert, stimmt damit, für den Leser jedenfalls, nicht ganz überein. Adorno redet, redet, redet. Die untere Gesichtshälfte und die obere sind dabei wie getrennt voneinander: »Irgendeine römische Portraitbüste kam mir in den Sinn.« Die Männer reden. Gretel Adorno hat einen männlichen Haarschnitt und als einzigen »Schmuck« eine Herrenarmbanduhr. Sie scheint auch als einzige Frau gelegentlieh etwas zu sagen. Frau Suhrkamp trinkt viel Wein und bricht auf einmal in Tränen aus.

Dann kommt Scholem. Er setzt sich sofort an den Tisch und ißt, erst Tafelspitz, dann Schwarzwälder Kirschtorte: »Der berühmte Mann freute sich ungeniert und konnte kaum abwarten, bis ein mächtiges Stück auf seinem Teller lag. Und dann aß er und aß und aß, und während er unüberhörbar schmatzte, erzählte er. Er erzählte wie er aß«. Dazu trinkt er Himbeersaft, »Ströme, Bäche«. (Siehe da. auch berühmte Männer essen und trinken.)

Sofort belehrt er ausgiebig Plessner über dessen (jüdische) Vorfahren, die er, einschließlich Plessners Großmutter, besser zu kennen scheint als dieser. Jedenfalls geht er davon aus. »Ein herrlicher Mann, sagte Helmuth, als wir durch die Nacht zurück zur Schumannstraße gingen.« »Sie streuen Glück wie Goldkörner um sich herum, die Stolzen und Freien«, schreibt Monika Plessner in einem Satz zuvor. - Jürgen Manthey, In Deutschland und um Deutschland herum. Ein Glossar. Frankfurt am Main 1995

Abendgesellschaft (6)  

 - N.N.

Abendgesellschaft (7)  »Man wehrt sich gegen sich selbst, hat nicht den Mut zu sich. Wer von den beiden ist Er? Einer davon ist mir verhaßt, widerlich; der andere furchtbar, kopfüber in die Wirrnis.« Böhm breitete sich an der Decke aus. Ein breiter Schatten mit Lichtklecksen, seine Augen stechende Kerzen, er schwoll beim Sprechen an, ein schallgeblähtes Segel.

»Kopuliert euch, diskutiert nichts Besseres vor dem Selbstverständlichen oder nehmt Rasiermesser.«

»Böhm,  ich  steile in  dich.  Böhm, was ist das alles?«

Der rollte sich durch den oberen Ritz des Fensters hinaus, stieg sorgfältig in den Reflexstrahl einer Laterne, rief im Lichtkern »Oho!«

Bebuquin sagte:

»Ich hätte mich und die Welt ohne Laster nicht ertragen, nicht ohne den Willen gegen mich, nicht ohne partiellen Selbstmord. Der ist nötig wie das sogenannte Positive. Alles wäre mir sonst Geist, Willkür und grenzenlos, und das läuft zum Ende auf die große Oper hinaus.«

Euphemia: »Bebuquin, bei dir bin ich noch nie auf die Kosten gekommen. Lagen wir zusammen, kommt dir die Philosophie, und das ist sehr komisch. Man kann sich bei dir gar nicht ernst nehmen, ein Kontrast frißt den anderen auf.« Heinrich Lippenknabe trat ein. »Ah, Kontrast, so heftig wie möglich. Aber man ordne ihn dem Gesetz unter. Das Gesetz ist Freiheit, und sie verwandelt den Kontrast zur Harmonie.«

Eine dicke Dame schwebt ein, geht mit dem Busen.

»Und man muß die Harmonie genießen, alles zur Freude auflösen, zu einer behaglichen Seligkeit. Wenn man so vollendet ist wie ich...« Bebuquin wirft die Dame zum Fenster hinaus. Lippenknabe springt ihr nach, kommt früher zu Boden, beide fallen in einen Waschbottich; er verkauft ihr vor dem Heraussteigen ein Bild, sie feilschen vorWasser triefend, fontänengleich unter dem antiken Himmel.  - (beb)

Abendgesellschaft (8)  

- N. N., Illustration zu Bulgakow, Der Meister und Margarita

Gesellschaft
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